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You’ll walk alone

Vor einem halben Jahr, am Abend des 28. Februar, schrieb der litauische Präsident Gitanas Nausėda auf X: „“ Eine Versicherung der Solidarität mit dem Land, das sich zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als drei Jahre gegen die russische Invasion wehrte. Kurz zuvor hatten US-Präsident Donald Trump und sein Vize JD Vance den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj vor laufenden Kameras im Oval Office gedemütigt.

Anfang dieser Woche saß Selenskyj erneut neben Trump im Weißen Haus. Die Bilder, die dabei entstanden, waren andere: Die Staatschefs witzelten, Trump lobte Selenskyj, Vance – erneut quer zu den beiden auf der Couch sitzend – blieb still. Selenskyj war mit mehreren europäischen Regierungschefs angereist, EU-Kommission und Nato waren auf höchster Ebene vertreten. Themen des Gipfels in Washington, D. C. in der Nacht zum Dienstag: Die Abstimmung einer gemeinsamen Verhandlungsposition, der Beginn der Arbeit an Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Vorbereitung eines Treffens Selenskyjs mit dem russischen Staatsoberhaupt Wladimir Putin. 

Seitdem sind nur wenige Tage vergangen, doch die Debattenlandschaft suggeriert eine neue Realität. Eine, in der in Deutschland darüber diskutiert wird, ob die Bundeswehr wohl die Stationierung eines größeren Verbandes in der Ukraine auf die Beine stellen könnte. Eine, in der bereits nach dem passenden Ort für einen Selenskyj-Putin-Gipfel gesucht wird, den der russische Präsident dem Weißen Haus zufolge „versprochen“ haben soll. Eine Realität schließlich, in der Russland laut Trumps Gesandtem Steve Witkoff mit „Nato-ähnlichen“ Sicherheitszusagen an die Ukraine leben könnte. 

Doch von einer neuen Realität kann nicht die Rede sein. Denn die Debatten täuschen vor, der Krieg befinde sich in einer Phase, in der er bald enden könnte. Die vermeintliche Zusage weitreichender Sicherheitsgarantien erweckt den Eindruck, die Ukraine könne im Austausch dafür einige Forderungen Russlands erfüllen – und Russland wiederum auf die aus Kyjiwer Sicht unverhandelbaren Bedingungen für ein Ende der Kämpfe verzichten. „, „tolles Fernsehen“, hatte Trump im Februar nach seiner Schimpftirade gegen Selenskyj gesagt. Dasselbe hätte er auch nach dem Gipfel in Washington sagen können: Friedensschluss als Reality-Format. 

Erst eine nüchterne Betrachtung der russischen Reaktion auf die Statements aus Washington befreit das Lagebild von Trumps darüber gestreutem Glitzer. Ein Treffen Putins mit Selenskyj sei erst möglich, wenn dafür die Bedingungen erfüllt seien, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow. Bedeutet: Wenn alle Forderungen Russlands erfüllt sind. 

Truppen von Nato-Ländern auf ukrainischem Gebiet würden niemals geduldet. Sicherheitsvereinbarungen mit der Ukraine, die nicht im Kreml abgesegnet wurden, seien ein „Weg ins Nirgendwo“. Der Krieg könne natürlich schon bald enden, seine „Grundursachen“ müssten dafür bloß beseitigt werden – eine Formel, die Putin auch bei seinem Treffen mit Trump in Alaska wiederholt. Die „Grundursachen“ für den Krieg sind jedoch, aus dem Kremlsprech in alltagstaugliches Deutsch übersetzt: Die Existenz einer nicht von Moskaus aus gesteuerten ukrainischen Regierung, der eine verteidigungsfähige Armee untersteht.

Denn dass Russland für Sicherheitsgarantien offen ist, ist keine Neuigkeit. Das war es bereits bei den Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022. Der damals erarbeitete Vertragsentwurf sah für Russland ein Vetorecht gegenüber anderen Garantiemächten vor: Sollte Putin die Ukraine in Zukunft erneut überfallen, müssten sich die Unterstützer des Landes basierend auf solch einem Vertrag Russlands Erlaubnis dafür abholen, die Ukraine auf jedwede Weise zu unterstützen. Am Donnerstag stellte Lawrow dieselbe Forderung neu auf.

All das mag Trump womöglich nicht bewusst sein, der einen Krieg zwischen Aserbaidschan und Albanien beendet haben will (gemeint ist Armenien) und dessen Gesandter Witkoff bei seinem jüngsten Moskaubesuch Berichten zufolge nicht verstanden haben soll, aus welchen ukrainischen Regionen Russland denn nun bereit wäre, Soldaten abzuziehen. Doch dass die EU-Regierungschefs und Selenskyj nicht verstehen, wie wenig sich Putin bislang tatsächlich in seinen Forderungen bewegt hat, ist unwahrscheinlich.

Und dennoch wahren sie die von Trump konstruierte Fassade. Selenskyj nimmt das Angebot an, Putin zu treffen – im Wissen, dass der russische Präsident, dessen Kriegsziel es ist, Europa an einem Tisch mit dem jeweils amtierenden US-Präsidenten sitzend neu aufzuteilen, sich wohl kaum mit ihm treffen würde. Dasselbe galt bereits im Mai für Selenskyjs Aufforderung an Putin, ihn in Istanbul zu treffen: Als (ziemlich sichere) Wette darauf, dass Putin nicht kommen werde, und als Zeichen an Trump, dass es nicht die Ukraine sei, die dem Frieden im Weg stünde. 

Ähnliches gilt für die europäischen Staatschefs. Trump und Vance wollen für die USA lediglich eine „koordinierende Rolle“, eine künftige Friedensmission in der Ukraine soll demnach von Truppen der Europäer getragen werden. Diese sprechen also von Plänen einer künftigen Truppenentsendung, wissend, dass sich aus russischer Sicht die Frage danach gar nicht erst stellt. Doch ebenso wie Selenskyj wollen sie Trump nicht verärgern, von dessen Wort nicht nur die Zukunft der Ukraine abhängt, sondern auch die Zukunft der Nato und damit ihre eigene. 

Also stellen sie für die Ukraine, wie es etwa Italien tut, vage, „Artikel-5-ähnliche“ Sicherheitsgarantien in Aussicht. Eine Konstruktion, die wenig Sinn ergibt: Dann könnte man das Land gleich in die Nato aufnehmen. Dass weder die USA noch Europa bereit sind, das Leben ihrer Soldaten in der Ukraine zu riskieren, hat sich in den vergangenen Tagen jedoch nicht verändert. Ein Grundsatz, den selbst viele Ukraine-Unterstützer teilen.

Während hierzulande Debatten über einen möglichen künftigen Einsatz der Bundeswehr in der Ukraine nach Abschluss eines Waffenstillstandes für Verunsicherung und Uneinigkeit in den Regierungsparteien sorgen, geht es derzeit in Wirklichkeit weiterhin darum, einen Waffenstillstand überhaupt erst zu erreichen. 

In dieser Frage, die eigentlich die wichtigste ist, hat Trump Putin in Alaska jedoch nachgegeben, als er die Forderung nach einer Waffenruhe fallen ließ und dem russischen Präsidenten darin zustimmte, dass ein echter Friedensvertrag das Ziel sein müsse. Über einen solchen lässt sich wiederum jahrelang verhandeln, während die Kämpfe weitergehen. Wie der israelische Militäranalyst Yigal Levin in einem auf Telegram veröffentlichten Kommentar zum Trump-Putin-Treffen anmerkte: Zwischen Nord- und Südkorea gibt es seit 72 Jahren keinen Friedensvertrag. Gekämpft werde nur nicht, weil es einen Waffenstillstand gibt. Und jenem habe Putin mit Rückendeckung Trumps nun in Alaska eine Absage erteilt.

„Ich bin absolut für Zusicherungen, einen Waffenstillstand abzusichern“, schrieb dazu auf X der Politologe Samuel Charap, der regelmäßig zu einem realistischen Blick auf die Lage in der Ukraine aufruft. „Doch diese Diskussion verliert zunehmend den Bezug zur Realität.“ Man müsse sich klar sein: „Es wird keine US-amerikanische oder europäische Verpflichtung geben, in den Krieg gegen Russland zu ziehen, falls es die Ukraine erneut überfällt.“ 

Innerhalb von zehn Tagen, kündigte Selenskyj an, wollten die Unterstützer seines Landes konkrete Vorschläge für Sicherheitsgarantien machen. Am Mittwoch trafen sich die Militärchefs aller Nato-Streitkräfte, um darüber zu beraten. Ganz von der Realität abgekoppelt sind diese Debatten demnach  offenbar nicht. Litauen wäre nach eigenen Angaben womöglich offen dafür, eine weitgehend symbolische Einheit in Kompaniegröße in die Ukraine zu entsenden, Schweden dafür, bei der Luftaufklärung und Seeüberwachung zu helfen. 

Doch sobald Klartext gesprochen wird, lässt sich erkennen, worauf die Diskussionen hinauslaufen. Nach einem Treffen der sogenannten Koalition der Willigen sagte EU-Ratspräsident António Costa: „Die Basis für künftige Garantien an die Ukraine sind ihre eigenen Streitkräfte.“ Aus dem Klartext wieder zurückübertragen: 



Die Zitate: Trumps vage Drohung und ein Kompliment aus Kyjiw

Die USA hätten Waffen in dreistelligem Milliardenwert an die Ukraine verschenkt, ohne selbst davon zu profitieren. Die USA würden die Rechnung für die Verteidigung ihrer europäischen Verbündeten zahlen. Die USA machten sich mit erfolgloser Verteidigungspolitik unter anderen Großmächten lächerlich. All das hat Trump seinem Vorgänger Joe Biden im Kontext des Ukrainekrieges vorgeworfen. Wahlversprechen im vergangenen Herbst: Krieg (mit einer Niederlage der Ukraine) beenden, Europäer für den Wiederaufbau bezahlen lassen,  

Doch am Donnerstag kritisierte Trump seinen Vorgänger mit einem für ihn neuen Argument – einem, das normalerweise aus dem Lager von Sympathisanten der Ukraine kommt. Biden habe mit seiner Doktrin, die Ukraine nur beschränkt militärisch zu unterstützen, die Chancen des Landes auf einen Sieg behindert, schrieb der US-Präsident in einem Post auf seiner Plattform Truth Social: 

Zahlreiche Kommentatoren hatten immer wieder darauf verwiesen, dass der Ukraine die Möglichkeit fehle, russische Militärziele im Hinterland anzugreifen. Erst im Spätherbst 2024 hatte Biden den Einsatz von Raketen mit Hunderten Kilometern Reichweite, beispielsweise gegen russische Raketenabschussbasen, zugelassen. 

Bis dahin verloren die Angriffe jedoch die strategische Bedeutung, die sie etwa Ende 2022 gehabt hätten, als die Ukraine auf dem Vormarsch war. Und die meisten der wenigen US-gelieferten Raketen hatte die Ukraine bereits auf eigenem Boden verschossen, Nachschub kam nach der Lockerung der Einsatzvorgaben für die Raketen kaum.

In seiner Mitteilung deutete Trump vage an, er wolle eine andere Politik verfolgen:

Ob die Andeutung Taten nach sich ziehen wird, kann nicht abgeleitet werden. Schließlich hat Trump seit Amtsbeginn immer wieder verkündet, Russland bald härter sanktionieren zu wollen, und die Drohung dann jedes Mal einkassiert. Dennoch versuchte Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak, Trump mit Schmeicheleien zu mehr Entschlossenheit zu bewegen. Er vertraue dem US-Präsidenten, sagte er der italienischen Zeitung


Unterm Radar: Flamingo, sechs Tonnen schwer

Die Ukraine produziert längst zahlreiche Modelle reichweitenstarker Angriffsdrohnen. Die leistungsstärksten der bisher bekannten Typen haben Reichweiten bis zu 1.500 Kilometern und können bei einem Einsatz in großer Zahl die russische Flugabwehr überwinden und beispielsweise Ölraffinerien und Militärflugplätze attackieren. Doch ihr Nachteil ist ihre beschränkte Größe: Kein Modell hat mehr als knapp 100 Kilogramm Sprengkraft an Bord, zu wenig, um befestigte Ziele zu attackieren.

Ein neuer Marschflugkörper, von dem mehrere ukrainische und internationale Medien berichten, soll das ändern. Am Sonntag veröffentlichte ein Fotograf der Nachrichtenagentur AP Fotos aus einer Werkhalle des ukrainischen Herstellers Fire Point, der mit der FP-1 bereits eines der erfolgreichsten ukrainischen Drohnenmodelle in Serie herstellt. Zu sehen auf den Bildern: mehrere Flugkörper mit auffällig großem Jet-Antrieb.

Nach Herstellerangaben handelt es sich um einen neuartigen ukrainischen Marschflugkörper mit dem Namen Flamingo. Er soll angeblich Ziele in einer Entfernung bis zu 3.000 Kilometern erreichen, womit der komplette europäische Teil Russlands abgedeckt wäre. Mehr als zehn Meter lang und sechs Tonnen schwer soll der Flamingo sein. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 950 Kilometern ist er ähnlich schnell wie andere gängige Marschflugkörper. 

Der Gefechtskopf hingegen ist deutlich schwerer als bei anderen Modellen: Der Hersteller gibt sein Gewicht mit 1.150 Kilogramm an. Das ist mehr als doppelt so viel wie beim deutschen Taurus und ein Vielfaches des 150 Kilogramm schweren Sprengsatzes, mit dem der ukrainische Neptun-Flugkörper ausgestattet ist. Ähnlich wie der Neptun ist das System, wie veröffentlichte Videos von Teststarts zeigen, bodenbasiert, braucht also kein Kampfflugzeug als Trägerplattform. 

Die Tests seien abgeschlossen, sagte der Hersteller der Nachrichtenagentur AP sowie dem US-Portal . Demnach scheint die Entwicklung des Flugkörpers hohe Priorität genossen zu haben: Lediglich neun Monate seien zwischen dem Entwurf und den Tests vergangen. Das Modell soll serienreif sein, derzeit werde ein Stück täglich hergestellt. Bis zum Spätherbst strebt der Hersteller an, monatlich 200 Flamingo-Flugkörper zu bauen. Das entspräche in etwa der Rate, in der Russland Marschflugkörper produziert.

Viele Details zum Flamingo sind noch unbekannt, etwa die genaue Herkunft des Entwurfs. Auf der Rüstungsmesse IDEX 2025 in Abu Dhabi hatte ein Hersteller mit dem Namen Milanion Group einen als „FP-5“ bezeichneten Flugkörper vorgestellt, dem der Flamingo auffällig ähnelt. Die Milanion Group hat ein Büro in Großbritannien und ist in einem Industriepark in den Vereinigten Arabischen Emiraten registriert, wo auch große Rüstungshersteller wie Saab, Raytheon und Thales Standorte unterhalten. 

Dem ukrainischen Portal Defense Express zufolge soll Milanion 2021 eine Partnerschaft mit einem nicht genannten ukrainischen Unternehmen eingegangen sein. Der ukrainische Hersteller Fire Point wurde dem AP-Bericht zufolge allerdings erst nach der russischen Invasion 2022 gegründet. 

Laut Defense Express soll der Flamingo über ein sogenanntes Inertiales Navigationssystem verfügen, das die Zielgenauigkeit gegenüber lediglich GPS-basierten Modellen erhöhe. Die Sprengkraft von mehr als einer Tonne reiche aus, um fast zwei Meter dicken Beton zu durchdringen. Größe und Gewicht des Flugkörpers erforderten den Einsatz eines Antriebssystems, wie es etwa in militärischen Trainingsjets verwendet wird. Kooperationen der Ukraine mit anderen Ländern bei der Produktion von Jet-Antrieben für Drohnenetwa mit Tschechien, sind seit vergangenem Jahr bekannt.

Doch die Größe des Flugkörpers bringe auch Nachteile. So sei er leicht auf russischen Radaren erkennbar und müsse in großer Zahl eingesetzt werden, um die Flugabwehr zu überwinden. Eine Massenproduktion stellte Präsident Selenskyj im Gespräch mit dem Portal bis zum Winter in Aussicht. 

Ukrainische Militärblogger kritisierten indessen, dass die Existenz des Flugkörpers überhaupt bekannt wird – sowie die aus ihrer Sicht leichtsinnige Veröffentlichung von Fotos aus dem Inneren der Produktionshallen. Auf den Fotos seien so viele Details erkennbar, dass sie dem russischen Geheimdienst bei der Suche nach dem Standort helfen könnten. „Die einzige für ein Land im Krieg zulässige Form einer Pressemitteilung über neuartige Waffen ist der Einsatz dieser Waffen gegen den Feind, der von ihrer Existenz nicht weiß“, kritisierte auf X ein Offizier der Asow-Brigade. Russische Blogger rühmen sich bereits auf Telegram, den Standort der Produktionsanlage ausgemacht zu haben, sie liege in einem Vorort Kyjiws. 

Aus deutscher Sicht dürfte interessant sein, ob die Produktion des Flamingo womöglich mit deutscher Finanzierung erfolgt. Schließlich sagte die Bundesregierung der Ukraine Ende Mai zu, die Herstellung reichweitenstarker Waffen zu finanzieren, die noch in diesem Jahr Serienreife erreichen sollen – als Ersatz für den Taurus-Marschflugkörper, den Deutschland auch nach dem Regierungswechsel nicht liefern will.