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„Wir sind in diesem Kriegsjahr wirklich erschöpft“

DIE ZEIT: Herr Generalleutnant,
während wir sprechen, befürchten einige Soldaten, dass sie in Pokrowsk
eingekesselt werden. Können Sie versprechen, dass das nicht passieren wird?

Andrij Hnatow: Die Lage in Pokrowsk
ist wirklich schwierig. Unsere Soldaten und Offiziere leisten verzweifelten
Widerstand, aber Russlands Armee rückt vor, unter unvorstellbaren Verlusten, und
vernichtet alles Lebende auf ihrem Weg. Unter solchen Bedingungen ist es extrem
schwierig, Stellungen zu erobern, Verteidigungslinien zu ziehen und sie
auszubauen. Unsere Kommandeure verstehen den Wert jedes Soldaten, denn das sind
unsere Leute, unsere Bürger. Doch die Art und Weise, wie Russland diesen Krieg
führt, lässt uns oft keine Wahl, wie wir unser Land verteidigen.

ZEIT: Wann kommt der
Zeitpunkt für einen Rückzug?

Hnatow: Wenn das Festhalten an einer Stellung oder Linie mit absoluter Sicherheit dazu führen kann, dass die dort kämpfenden Soldaten eingekesselt, gefangen genommen oder vernichtet werden, dann wird
selbstverständlich entschieden, ein entsprechendes Manöver durchzuführen. Wir
achten besonders auf Situationen, in denen die Gefahr besteht, dass Menschen
gefangen genommen werden. Russland schikaniert und erschießt Kriegsgefangene
oft. Deshalb ist es entscheidend, dass die Kommandeure vor Ort die Lage richtig
einschätzen und uns entsprechende Daten liefern.

ZEIT: Aber noch ist die Lage
stabil genug?

Hnatow: Wladimir Putin hat
wiederholt erklärt, er werde die Stadt in wenigen Tagen, in wenigen Wochen
einnehmen. Das hören
wir seit über einem Jahr. Die Angreifer haben eine große Anzahl an Truppen
zusammengezogen, um diese relativ kleine ukrainische Stadt einzunehmen. Bisher
kämpfen wir weiter und versuchen, die feindlichen Kräfte auszuschalten, die in
die Stadt eindringen konnten. Es sind etwa 400, wir wissen es nicht genau.

ZEIT: Eine relativ kleine
Stadt, sagen Sie. Wie bedeutend wäre der Verlust aus militärischer Sicht?

Hnatow: Urbanisiertes Gebiet
ist leichter zu verteidigen. Umgekehrt ist es für den Feind schwieriger,
solches Gebiet einzunehmen, und seine Verluste fallen dabei höher aus. Wenn man
die Stadt verlässt, ist die Verteidigung um ein Vielfaches schwieriger. 

ZEIT: Weiter südlich, vor
allem bei Huljajpole, ist das aktuell zu sehen. Die Front ist dort chaotisch. An diesem Abschnitt sind Brigaden stationiert, die nicht zu den besten in der ukrainischen Armee zählen. Russland erobert
schnell Gebiet. Wie konnte es dazu kommen?

Hnatow: Fast entlang
der gesamten Frontlinie ist die Lage angespannt, auch in Huljajpole und den
umliegenden Gebieten. Aber wenn wir sagen, dass wir in dieser Richtung Gebiete
verloren haben, so ist es doch genauso richtig, zu sagen, dass wir in anderen
Richtungen Gebiete erobert und erfolgreiche Gegenoffensiven durchgeführt haben.
Wir haben den Feind in der Region Sumy gestoppt. Wir sind dabei, Kupjansk zu
befreien. Auch in Richtung Dobropillja konnten wir den Feind zurückschlagen und
den Frontvorsprung abschneiden.

ZEIT: Aber es sind ja auch
Einheiten aus der Gegend um Huljajpole abgezogen worden, um bei Dobropillja nördlich von Pokrowsk zu
kämpfen, und die russische Armee rückt nun langsam in Richtung der
Großstadt Saporischschja vor. Es wirkt zunehmend oft, als müsste die Ukraine
Lücken an der Front stopfen, und dann tun sie sich woanders auf. Wie wollen Sie
das lösen?

Hnatow: Tatsächlich gibt es
viele Lösungen,
die uns helfen könnten.
Vor allem müssen wir unsere Hilfsgesuche aufrechterhalten, insbesondere unsere
Anfragen nach Waffen zur Flugabwehr und Langstreckenraketen. Wir arbeiten
diesbezüglich kontinuierlich mit allen Partnerländern zusammen und sind für
diese Unterstützung dankbar. Über mögliche Aktionen
auf dem Kampffeld zu sprechen, ist definitiv nicht Gegenstand dieses
Interviews.

ZEIT: Egal mit welcher
Einheit ich an der Front spreche, alle berichten von Personalproblemen,
insbesondere in der Infanterie. Ich möchte Ihre Sichtweise hören:
Gibt es ein Personalproblem?

Hnatow: Natürlich wird jeder
Kommandeur immer sagen, dass er mehr Personal, mehr Infanterie, mehr Waffen,
mehr Ausrüstung, mehr Munition und mehr sonstige Ressourcen benötigt.
Die Lage ist sehr schwierig, wir sind in diesem Kriegsjahr wirklich erschöpft,
aber wir ergreifen alle Maßnahmen, um die Einheiten aufzustocken und unsere
Leute auszubilden. Wir können trotz dieser Lage sicherstellen, dass unsere
Soldaten mehr als 50 Tage Grundausbildung erhalten, bevor sie ins Kampfgebiet
verlegt werden. Anschließend erhalten sie weitere 14 Tage Eingewöhnungszeit, um sich mit der Situation im Einsatzgebiet vertraut zu machen.

ZEIT: Ist Mangel an Infanteristen aus Ihrer Sicht also nicht
kritisch?

Hnatow: Unzureichende
Ressourcen sind immer ein kritisches Problem. Wir sprechen laufend auf allen
Ebenen unseres Kommandos darüber, wie wir damit umgehen sollen. Es ist
schwierig, Kampfeinsätze mit begrenzten Ressourcen durchzuführen. Wir suchen
deshalb nach anderen Möglichkeiten, um dem Feind maximale
Verluste zuzufügen. Wir greifen derzeit zahlreiche Objekte des russischen
militärisch-industriellen Komplexes an, die die Aktionen der Truppen des Aggressorlandes
auf dem Schlachtfeld beeinträchtigen können. Dies betrifft
die Ölindustrie und die Produktion von Munition und Ausrüstung, insbesondere von unbemannten Luftfahrzeugen.

ZEIT: In den letzten sechs
Monaten hat sich die Frontzone stark verändert. Sie hat sich ausgedehnt, weil Drohnen immer weiter fliegen können. Es
gibt etwas, das viele als Todeszone bezeichnen, eine Grauzone, in der nicht
mehr klar ist, wo sich die russischen Angreifer genau befinden. Welche Schritte
unternehmen Sie derzeit, um die Kontrolle über die Frontzone zurückzugewinnen?