Wie vielen Menschen aus der Ukraine die Russin Nadeschda Rossinskaja seit Kriegsbeginn geholfen hat, können selbst ihre engsten Mitstreiter nicht genau sagen. Tausende müssen es gewesen sein – die meisten von ihnen aus der Grenzregion Charkiw. Seit dem russischen Einmarsch fuhr die 30-Jährige regelmäßig in die besetzten Gebiete, verteilte Essen und Medikamente. Andere Freiwillige schlossen sich ihr an. Gemeinsam sammelten sie Geld für Ukrainer, die via Russland aus dem Kriegsgebiet nach Europa ausreisen wollten, mieteten Wohnungen an, wo Schutzsuchende übernachten konnten.
Seit einigen Wochen nun sitzt Rossinskaja in einem russischen Gefängnis, wo sie laut Gerichtsurteil die nächsten 22 Jahre verbringen soll. Dem Inlandsgeheimdienst FSB schien ihre Hilfsbereitschaft und ihre Reisen in die Ukraine verdächtig. So geriet die Russin ins Visier der Ermittler. Der Vorwurf lautete schließlich: Landesverrat. Angeblich soll Rossinskaja gesammelte Spenden an die ukrainische Armee überwiesen haben. Belege dafür gibt es nicht und Rossinskaja selbst pocht auf ihre Unschuld. „Ich bin keine Verbrecherin, an meinen Händen klebt kein Blut“, sagte sie in ihrem Abschlussplädoyer vor Gericht.
Das Urteil gegen Rossinskaja ist auch nach russischen Maßstäben hart. Es ist die zweitlängste Haftstrafe, die je eine Frau in der russischen Geschichte bekommen hat. Gleichwohl ist sie nur eine von Hunderten Russinnen und Russen, die seit Kriegsbeginn wegen vager oder unzureichend bewiesener Vorwürfe für viele Jahre oder gar Jahrzehnte eingesperrt worden sind. Immer häufiger wenden die Staatsanwälte dabei zwei Paragrafen des russischen Staatsgesetzbuchs an: Landesverrat und Terrorismus. In beiden Fällen sind Ermittler des mächtigen FSB zuständig.
Zahl der Anklagen steigt
Schon die offiziellen Statistiken zeigen einen eindeutigen Trend: Im vergangenen Jahr, so berichtet die staatliche Agentur Tass, wurden 145 Personen wegen Landesverrats verurteilt – viermal so viele wie im Jahr davor. Tatsächlich aber dürften es deutlich mehr Fälle sein.
Der Datenanalyst Kirill Parubets hat für die Menschenrechtsorganisation Perwyj Otdel und das exilrussische Portal alle verfügbaren Informationen zusammengetragen und sie auch der ZEIT zur Verfügung gestellt. „Die Urteile von Militärgerichten und den Gerichten in den besetzten Gebieten der Ukraine tauchen in der offiziellen Statistik nicht auf“, erklärt Parubets. Durch eigene Recherchen in russischen Lokalmedien und in den Listen von anderen Menschenrechtsorganisationen konnte er im vergangenen Jahr mindestens 361 Angeklagte identifizieren, denen Landesverrat vorgeworfen wurde.
Ein Teil der Vorwürfe betrifft Personen, die tatsächlich mit ukrainischen Geheimdiensten kooperiert haben oder ahnungslos als Agenten benutzt worden sind. Im vergangenen Jahr wurde etwa Darja Trepowa aus Sankt Petersburg zu 27 Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie hatte dem russischen Militärblogger Maxim Fomin während einer Lesung eine Büste überreicht, die anschließend explodierte und ihn tötete. Trepowa will von dem Sprengstoff nichts gewusst haben.
Als schwere Kapitalverbrechen werden aber auch immer öfter Taten ausgelegt, die nach russischen Gesetzen gar nicht strafbar oder bei denen nur geringe Sachschäden entstanden sind. Im vergangenen Jahr wurde etwa die 22-jährige Studentin Tatjana Laletina aus Omsk zu neun Jahren wegen Landesverrats verurteilt, weil sie umgerechnet 25 Euro an zwei ukrainische Hilfsorganisationen überwiesen hat. Im Mai 2025 wurden zwei Studenten zu jeweils sieben Jahren verurteilt. Sie sollen geplant haben, den Steuerungskasten einer Eisenbahnlinie anzuzünden. Während der Gerichtsverhandlung wurde publik, dass ein informeller Mitarbeiter des Zentrums für Extremismusbekämpfung der russischen Polizei den jungen Männern Geld für den Brandanschlag angeboten und sich als ukrainischer Geheimdienstler ausgegeben habe.
Gerichtsprozesse sollen einschüchtern
Die Rechtspraxis in diesen Verfahren sei längst nicht mehr nachvollziehbar, sagt ein Rechtsanwalt, der Mandanten in Russland bei Anklagen wegen Landesverrats und Spionage verteidigt und aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte. „Wenn man Geld in die Ukraine überweist oder am Flughafen bei der Ausreise aus Russland mit einer Camouflagehose im Gepäck aufgegriffen wird, kann das unter Umständen schon als Verrat ausgelegt werden“, erklärt der Experte. Mit diesen Gerichtsprozessen sollen einerseits Kriegsgegner eingeschüchtert werden. „Gleichzeitig sind solche Fälle für die FSB-Ermittler eine leichte Gelegenheit, schnell Karriere zu machen.“