Wer sich in diesen Spätsommertagen im sogenannten „politischen Berlin“ umhört, dem schlägt eine einhellige Sorge entgegen: Die vom „Verhetzungspotenzial“. Was ist damit gemeint?
Ende der Woche treffen sich die Fraktionsspitzen von Schwarz-Rot zur Klausur. Kanzler Friedrich Merz hat das Land auf harte Reformen eingeschworen: Der „Sozialstaat, wie wir ihn heute haben“ sei nicht mehr finanzierbar.
Also wird gestritten: Soll künftig der Bürgergeld-Empfänger den berühmten Gürtel enger schnallen – oder die Angestellte, die sich eigentlich auf Ihre wohlverdiente Rente freute, zum Weitermalochen verdonnert werden?
Sollen Reiche, die von Beruf einfach nur Erben sind, mehr Steuern zahlen – oder wird die Hausbesitzerin beim Kauf einer Wärmepumpe wegen gestrichener Fördergelder schon bald ein paar Tausender drauflegen müssen?
Knüpft man denjenigen unter den Millionen gesetzlich Krankenversicherten, die es überhaupt noch schaffen, einen Arzttermin zu ergattern, künftig eine „Kontaktgebühr“ ab, um die Kassen wieder zu füllen?
16 Jahre krankgeschrieben
Und dann flatterte auch noch die folgende Nachricht herein: Eine Beamtin war 16 Jahre lang bei vollen Bezügen (!) krankgeschrieben und darüber vergessen worden. Keine Amtsärztin hat sich je ein Bild davon gemacht, ob diese Dauerkrankmeldung eigentlich gerechtfertigt war. Während ein gesetzlich Versicherter nach sechs Wochen Krankschreibung nicht mehr von seinem Arbeitgeber bezahlt wird, verdiente die Frau, eine Lehrerin, also krankgeschrieben jahrelang genauso gut, wie wenn sie jeden Morgen um 7.30 Uhr auf dem Schulhof gestanden hätte.
Bei mir wollt ihr sparen, aber die anderen sollen so weiter machen dürfen, wie bisher? Diese Klage besteht bei all den aktuell diskutierten Reformen und Reförmchen.
Es sind emotionale Themen, zu denen die allermeisten Menschen ihre eigene, ganz dezidierte Meinung haben. Der „Herbst der Reformen“ wird grundlegende Gerechtigkeitsfragen berühren. Und es besteht die konkrete Gefahr, dass neue Ungerechtigkeiten entstehen. All das bietet hervorragendes Aufreger– oder – da ist es wieder, das Wort der Stunde: „Verhetzungspotenzial“.
Der Kanzler hat bisher nur strenge Worte gefunden
Das Bündnis Sahra Wagenknecht – die Partei mit dem Faible für die ganz einfachen Wahrheiten – macht genau so gerade Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen. „Rentner in Armut“, „kein Geld für Kitas“, „Mieten unbezahlbar“, steht auf den Plakaten – und dann stets der klagende Zusatz: „Aber Milliarden für Waffen!“ Es ist der alte Slogan, auf den auch die rechtsextreme AfD und selbst Teile der Linkspartei gerne einsteigen: Weil Deutschland die Ukraine unterstützt und das viel Geld kostet, darben hierzulande angeblich die „normalen Menschen“. Das ist natürlich grob verkürzt und weitgehend falsch. Das Problem ist aber: Die Bundesregierung setzt dieser Demagogie gerade kommunikativ nichts entgegen.
Beginnen wir mit dem Kanzler. Friedrich Merz hat für seine Landsleute bisher vor allem strenge, mahnende Worte gefunden. Er hat ihnen zum Beispiel wiederholt vorgeworfen, zu wenig zu arbeiten und zu oft krank zu sein. Die deutsche Wirtschaft sei zudem wenig innovativ und international einfach mehr. Eine solche Ansprache senkt die allgemeine Stimmung natürlich eher, als dass sie sie hebt.
SPD-Finanzminister Lars Klingbeil machte es da nicht besser: Vor einigen Wochen suggerierte er, Steuererhöhungen brauche es vor allem, um Haushaltslöcher zu stopfen. Hätte er höhere Steuern für Reiche selbstbewusst zu einem Gerechtigkeitsthema ausgerufen, es hätten ihm mehr Menschen zugehört.
Was gilt denn nun für die Jugend?
Besonders gefährlich ist, dass die Bundesregierung gerade nicht klar sagt, wie verpflichtend das neue Wehrpflicht-Modell denn wirklich für alle jungen Erwachsenen sein wird. Und dass sie auch auch dazu schweigt, inwieweit deutsche Soldaten in der Ukraine zur Absicherung eines möglichen zukünftigen Friedens gebraucht werden. Das schafft einen Raum der Unsicherheit, den Populisten genüsslich füllen.
Zum Beispiel für die rechtsextreme AfD. Sie verbreitet Social-Media-Posts, in denen ein maliziös dreinblickender Friedrich Merz mit langen Fingern nach der unschuldigen deutschen Jugend greift. Nicht wenige fühlten sich an die Propaganda der NS-Jahre erinnert.
Die Sorge um das „Verhetzungspotenzial“ der anstehenden Reformen ist also durchaus angebracht.
Natürlich kann die schwarz-rote Regierung die gewaltigen Herausforderungen (weniger junge Menschen und mehr alte, Kostenexplosion in den Sozialkassen, Wirtschaftsflaute und natürlich die internationale Lage, um nur ein paar zu nennen) nicht einfach ignorieren. Es muss sich etwas ändern, sei es bei der Bundeswehr oder beim Bürgergeld. Aber Union und SPD tun sich schwer damit, notwendige Härten so zu kommunizieren, dass sie – sicher nicht überall, aber doch bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern – auf Akzeptanz stoßen.
Dabei sind Menschen in der Regel bereit, Opfer zu bringen. Sie wollen nur wissen, wofür. Friedrich Merz sagt, er wünsche sich ein Deutschland, das in der Welt wieder bewundert werde. Doch wie genau ein modernisiertes Land aus seiner Sicht aussehen sollte, lässt er offen.
Vielleicht wäre es daher an der Zeit für den Kanzler, mal öffentlich von einer besseren Zukunft zu träumen. Wofür genau, für welches Deutschland, sollen wir kämpfen? Und warum lohnt es sich aus seiner Sicht, auch mal zurückzustecken?