Der Regierungskritiker Michail Chodorkowski glaubt, dass die russische Bevölkerung einen militärischen Konflikt mit einem Nato-Mitgliedsland mittragen würde. „In der russischen Bevölkerung herrscht schon seit drei Jahren der Eindruck, dass man gegen die Nato kämpft“, sagte Chodorkowski bei einem Gespräch mit dem Thinktank Zentrum für Liberale Moderne in Berlin.
Der russische Präsident Wladimir Putin selbst wisse natürlich, dass dies nicht der Fall sei. Putin sei sich auch darüber bewusst, dass ein Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland ohne ein Ende des Krieges in der Ukraine ein strategischer Fehler wäre, „aber bei den Menschen wäre die Blockade im
Kopf weg, wenn nun die Nachricht käme: Russland steht im Krieg mit
Estland“, sagte Chodorkowski.
Der ehemalige Chef des russischen Ölkonzerns Jukos war von 2003 bis 2013 in politischer Gefangenschaft Russlands. Seit 2015 lebt er in London und ist führendes Mitglied des regierungskritischen Antikriegskomitees Russlands. Dazu gehört auch der Schachgroßmeister Garri Kasparow. Am 14. Oktober wurde die Vereinigung vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB als „terroristische Vereinigung“ eingestuft.
Chodorkowski sieht mit Blick auf die Stimmung in Russland wenig Hoffnung, dass die Bevölkerung in der näheren Zukunft auf ein Ende des Krieges in der Ukraine drängen könnte: „Es herrscht derzeit eine Trägheit im Land, den Krieg zu beenden.“ Die Bevölkerung habe mittlerweile
vergessen, warum der Krieg begonnen wurde. „‚Der Krieg ist halt‘, denken
die Menschen, und wenn man fragt, wer ihn begonnen hat, kommt die
Antwort: ‚Die Ukraine'“, sagte er.
Chodorkowski wies darauf hin, dass Putin den Krieg in der Ukraine bisher eher wie ein Expeditionskorps habe wirken lassen, bei dem die Soldaten großzügig bezahlt würden. „In Russland gibt es derzeit kein Mitleid mit den Soldaten, die dort kämpfen, denn die Menschen denken, dass sie sich aus freien Stücken wegen des Geldes verpflichtet haben.“
Chodorkowski glaubt nicht an Zweck weiterer Sanktionen
Auf das Leben der russischen Bevölkerung hätten auch die Wirtschaftssanktionen der westlichen Länder keinen großen Einfluss, sagte Chodorkowski. „Die Lücke, die durch das Fehlen westlicher Güter gerissen wurde, wird mittlerweile größtenteils von China aufgefüllt.“ Zudem gelangten in der Praxis noch immer Waren aus Europa nach Russland: „Es gibt Wege über Drittländer oder auch falsche Etikettierungen. Solange auf dem Papier nicht etwas Verbotenes steht, geht es beim Zoll durch“, sagte Chodorkowski.
Für Europa ergibt sich daher seiner Meinung nach sogar ein Nachteil aus den Handelssanktionen. „Wir haben keinen Abfluss von Kapital aus Russland nach Europa.“ Russland könne stattdessen einen Außenhandelsüberschuss erreichen. Eine Forcierung weiterer Handelssanktionen würde deshalb immer mehr an Einfluss verlieren, fügte er hinzu.
„Durch den Ölhandel mit Indien und China erhält Russland noch immer Einnahmen, auch wenn das Land nun noch stärker in Konkurrenz mit Saudi-Arabien steht“, sagte Chodorkowski. Grundsätzlich sei die Sanktionierung von Öl und Gas aus Russland das effektivste Mittel gewesen: „Hier hat Putin seinen Markt wirklich verloren, denn das Handelspotenzial mit Indien und China ist bald erschöpft.“
„Ukraine wandelt auf schmalem Grat“
Mit Blick auf die ukrainischen Angriffe auf russische Ölinfrastruktur zeigte sich Chodorkowski zwiegespalten. „Auf der einen Seite hat die Ukraine es geschafft, den Menschen in Russland kurz vor Augen zu führen, dass der Krieg auch sie erreichen kann.“ Andererseits sei Ölmangel für die russische Bevölkerung nicht ungewöhnlich.
„Die Ukraine muss auf einem schmalen Grat wandeln bei ihren Angriffen auf Ziele in Russland“, sagte Chodorkowski. Wenn die russische Bevölkerung so aufgebracht würde, dass sie den Kampf in der Ukraine als nationale Aufgabe versteht, hätte Russland ein enormes Mobilisierungspotenzial. „Aktuell macht die Ukraine das sehr gut, aber sie muss aufpassen.“
