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Mehr als nur ein Spiel

Zwei Fußballspieler eilen in die Umkleide. Sie stützen ihren humpelnden Mannschaftskollegen, dabei stehen sie selbst jeweils nur auf einem Bein. Gemeinsam legen sie den Verletzten auf eine Liege. „Er hat sich beim Aufwärmen verletzt“, sagt einer. Mit schmerzverzogenem Gesicht greift der Verletzte an seinen Beinstumpf. Der Physiotherapeut kommt dazu, vielleicht ist etwas gebrochen.

Ihr Mannschaftskamerad Wolodymyr Samus steht abwinkend daneben. „Das ist nicht so schlimm“, sagt der 44-Jährige. Die Spieler hätten Schlimmeres erlebt. Im Kampf gegen russische Truppen verloren sie ihre Arme oder Beine. Im Vergleich dazu erscheint eine Muskelzerrung oder Fraktur im Oberschenkel fast harmlos.

Wolodymyr und seine Kollegen sind Spieler des Kyjiwer Fußballklubs Burewij, eines Vereins für Fußballer mit Amputationen. Zwei- bis dreimal die Woche treffen sie sich zum Training. Die Mannschaft besteht aus neun Spielern, der Jüngste ist 30, der Älteste 60. Mitspielen darf, wer nur noch einen Fuß hat, ins Tor dürfen nur einarmige Spieler.

Was passiert mit Menschen, die im Krieg schwer verletzt wurden? Wie finden sie zurück ins Leben, wenn Prothesen, Schmerzen und Erinnerungen an die Front plötzlich ihren Alltag bestimmen? In der Ukraine haben Zehntausende Veteranen durch den russischen Angriffskrieg Gliedmaßen verloren. Viele kämpfen mit Depressionen und sozialer Isolation. Doch für Wolodymyr und seine Kameraden gab es einen Weg zurück ins Leben: Fußball.

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„Ich habe gedacht, ich würde nie wieder Fußball spielen“

Wolodymyr, dicke Oberarme, Ukraine-Trainingsanzug, trägt eine Prothese am rechten Bein. Im Sommer 2022 war er Maschinengewehrschütze der ukrainischen Bodentruppen. In der Nähe von Awdijiwka, einer Stadt im Donbass, geriet er damals mit seiner Einheit unter heftigen Beschuss. Eine Mörsergranate traf ihn am Bein, so erzählt Wolodymyr es heute.

„Ich kann mich an nicht mehr viel erinnern. Ich bin erst im Krankenhaus wieder aufgewacht“, sagt er. „Da war das Bein schon weg.“ Von seinen Kameraden erfuhr er, was passiert war: Stundenlang wurde seine Einheit beschossen, die Rettung von Wolodymyr gestaltete sich äußerst schwierig. Er wurde in ein Krankenhaus nach Dnipro gebracht, da war sein Bein noch am Körper. Trotz mehrerer Operationen konnte es nicht gerettet werden. Die Ärzte mussten es amputieren.

Der Ukrainer spricht nicht gern über die Front, auch nicht darüber, wie deprimiert er in den ersten Wochen nach dem Angriff war. „Ich habe gedacht, ich würde nie wieder Fußball spielen“, sagt er. Trotzdem kehrte er zurück auf den Platz, bereits ein Jahr nach der Verletzung stand Wolodymyr wieder auf dem Rasen. Schon als Kind habe er Fußball gespielt, von nun an mit einem Bein und zwei Krücken.

Hunderte Kilometer sei Wolodymyr gefahren, um in einer zentralukrainischen Stadt an einem Fußballtraining für Kriegsveteranen teilzunehmen. In Kyjiw gab es damals noch keinen Verein. Dann sah er auf Facebook: Mitspieler mit Amputationen gesucht! Sie trafen sich in der Hauptstadt und spielten von nun an jede Woche. Im vergangenen Jahr gründeten sie ihren Verein ganz offiziell und gaben ihm den Namen Burewij, auf Ukrainisch Wirbelsturm.

„Zweibeiner runter vom Platz“

Wolodymyr muss sich jetzt umziehen, es ist halb sieben am Abend, Zeit fürs Training. Er stülpt sich sein Trikot mit der Nummer neun über. Ein anderer Spieler hat noch seine Beinprothese an. „Zweibeiner runter vom Platz“, ruft sein Teamkollege. Der Mann schleudert seine Carbonprothese an den Spielfeldrand. Die Regeln des Amputiertensports unterscheiden sich etwas von der Standardversion: Wer den Ball absichtlich mit der Krücke spielt, begeht ein Foul, auf das ein Freistoß oder Elfmeter folgt. Abseits gibt es nicht.

Wie vor jedem Fußballtraining wird erst einmal aufgewärmt. Ein paar Runden um den Platz, den Körper in Bewegung bringen, Beine und Arme dehnen. Wer schon einmal mit Krücken gehen musste, kann sich vorstellen, wie anstrengend das Laufen sein muss. Der Druck auf Bizeps und Trizeps ist enorm. Trotzdem sprinten sie zackig dem Ball hinterher.

Die Flutlichtanlage auf dem Platz blendet, es riecht nach Schweiß und feuchtem Rasen. „Der Fußball bedeutet ihnen die Welt“, sagt der Physiotherapeut, der vom Spielfeldrand aus zusieht. Zwar seien sie in guter körperlicher Verfassung, trotzdem komme es bei fast jedem Training oder Spiel zu Verletzungen, Krämpfen, Zerrungen, im schlimmsten Fall Brüchen. „Es ist einfach zu viel Druck auf den Armen und Beinen.“

Viele kommen mit dem Trauma des Krieges nicht zurecht

Schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine war Fußball der populärste Sport des Landes, seit Russland die Ukraine überfiel, wird auch Amputiertenfußball hier immer beliebter. Der erste Verein wurde 2023 von der griechisch-katholischen Kirche in Lwiw gegründet, einer Stadt ganz im Westen des Landes. „Der Verein war der erste Schritt, um die Entwicklung des Amputiertenfußballs in der Ukraine anzustoßen“, sagt Alina Sandul, Sprecherin der Ukrainian Association of Football (UAF), des ukrainischen Pendants zum DFB. Mittlerweile gebe es 20 Teams in der Ukraine. Landesweit trainieren und spielen heute fast 300 Amputierte.

2024 wurde sogar eine Liga für sie gegründet, die „Liga der Starken“. Die Zahl der Vereinsgründungen wächst mit den Massen an verwundeten Soldaten, die der Krieg hinterlässt. Nach aktuellen Schätzungen gibt es in der Ukraine mehr als 100.000 Menschen mit Amputationen, darunter viele Veteranen, die während des Krieges Gliedmaßen verloren haben. „Da sich das Land immer noch im Krieg befindet, wird die Zahl der Spieler mit Amputationen wohl leider weiter steigen“, sagt Sandul.

Viele der kriegsversehrten Soldaten kehren in ihre Heimatstädte zurück und versuchen, ein normales Leben aufzubauen. Andere gehen wieder an die Front und kämpfen weiter gegen russische Truppen. Und einige geraten irgendwo dazwischen, sie kommen mit den Traumata dieses brutalen Krieges und dem Verlust ihrer Gliedmaßen nicht zurecht, Alkohol- und Drogenmissbrauch ist bei ihnen nicht unüblich. 

Gemeinschaft und Sport würden viele heilen

Einigen Soldaten hilft nun der Fußball, die emotionalen und physischen Wunden zu heilen. „Der Amputiertenfußball bewirkt wahre Wunder in der Rehabilitation“, sagt Alla Waskowska vom FC Pokrowa Lwiw, dem ersten Amputiertenverein der Ukraine. Waskowska gibt zu bedenken, der Sport sei nicht für jeden geeignet, die Rehabilitation durch den Fußball hinge von der persönlichen Verfassung der Kriegsveteranen ab.

„Ich habe gesehen, wie Fußball unglaubliche Veränderungen bei den Menschen bewirkt hat.“ Immer wieder kämen Veteranen zum Training, die anfangs traurig, verschlossen und misstrauisch gegenüber ihrer Umgebung seien. Nach zwei Monaten im Team seien sie wie verwandelt. Die Gemeinschaft, die Witze in der Umkleide, Gespräche und das Teilen der Erfahrungen von der Front gehörten dann zum Alltag der Fußballspieler. Und mit ihnen würden viele innerlich heilen.

Vom Fußballplatz in den Luftschutzbunker

„Wir teilen alle dasselbe Schicksal“, sagt Oleksandr Maltschewskij, Kapitän der Kyjiwer Mannschaft. „Und wir teilen denselben Kampfgeist. Wir wollen gewinnen.“ Das Ziel der Mannschaft sei es, am Ende der Saison unter den besten sechs der Liga zu sein. Der Kapitän kam einige Tage nach der russischen Vollinvasion freiwillig zum Militär. In einer Spezialeinheit der ukrainischen Streitkräfte manövrierte er gepanzerte Fahrzeuge. Als die Region um Charkiw vor drei Jahren befreit wurde, sei er unter feindlichen Mörserbeschuss geraten, erzählt er. Drei seiner Kameraden seien bei dem Angriff gestorben. Ihn habe ein Geschoss im rechten Bein getroffen.

Meistens könne Oleksandr beim Fußballspielen den Krieg für ein, zwei Stunden vergessen. An anderen Tagen hole die Kriegsrealität die Spieler ein: Beim Auftaktspiel in der neuen Liga wurde Kyjiw von russischen Drohnen angegriffen. Die Spieler mussten in den Luftschutzbunker, direkt neben dem Spielfeld.

Oleksandr sagt: „Nachdem ich mein Bein verloren hatte, dachte ich: Hauptsache, mein Kopf ist noch dran und ich kann meine Familie versorgen.“ Sein Mannschaftskollege Wolodymyr sagt, mit dem Fußball und seiner Mannschaft habe er sich wie neu geboren gefühlt. „Ich habe verstanden: Es gibt ein Leben nach der Amputation meines Beins.“

Als beim Auftaktspiel nach dem Luftalarm Entwarnung gegeben wurde, erzählt Oleksandr, seien die Männer wieder aufs Feld und hätten das Spiel beendet. Auch hier haben sie sich den Siegeswillen nicht nehmen lassen.