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Gedenken gestohlen

Am 9. Mai wird Russlands Präsident Wladimir Putin seinen angeblichen „Sieg“ im Angriffskrieg gegen die Ukraine feiern. Vor Putin war der 9. Mai ein Gedenktag an den unbestrittenen Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland. Der russische Machthaber missbraucht den Tag nun für die Glorifizierung seines Überfalls auf die Ukraine. Die Raketen, Granatwerfer und Flugzeuge, mit denen er die Menschen von Kyjiw bis Saporischschja terrorisieren lässt, werden auf der Parade vorgeführt. Putin verrührt die Ereignisse von 1945 und 2025 zu einer großen Erzählung: Russland siegt in der Ukraine über den Westen.

Für Europa und den neu gewählten Bundeskanzler Friedrich Merz liegt in Putins Narrativ eine besondere Herausforderung. Denn in Russland, aber auch in der US-Regierung reden und handeln viele so, als habe die Ukraine den Krieg schon verloren und müsse sich nun mit dessen Resultaten, wie dem Landraub, abfinden. Das ist falsch. Der Vergleich von 1945 und 2025 macht es klar: Die sowjetischen Truppen sind damals in drei Jahren und zehn Monaten von Moskau und Stalingrad bis in die Mitte Europas nach Berlin vorgerückt. Putins Truppen haben es in drei Jahren und drei Monaten gerade mal vom ostukrainischen Donezk bis in die Vororte von Pokrowsk geschafft. Der Ausgang dieses größten Landkrieges in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ist offen. Und egal, wie klein sich die Europäer manchmal selbst reden: Europa hat auf den Ausgang dieses Krieges großen Einfluss.

Noch können die Europäer den Trump-Putin-Deal verhindern

Vor 80 Jahren endeten der deutsche Vernichtungsfeldzug gegen die Völker Osteuropas, der Holocaust und der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Deutschlands. Russlands Angriff auf die Ukraine ist damit nicht gleichzusetzen und wird auch nicht so enden. Aber Putin darf auf keinen Fall so davonkommen, wie Donald Trump es neulich vorgeschlagen hat: Demnach solle Russland die Krim und die eroberten Teile der Ukraine behalten, mit dem Segen der USA dazu.

Das käme einer Kapitulation der Amerikaner vor Putin gleich – und Europas gleich mit. Putins Emissäre gehen in Washington derzeit ein und aus, um Trump von einem Deal zu überzeugen: Trump soll die russischen Eroberungen aktenkundig und unumkehrbar machen. Putin bietet Trump im Gegenzug allerlei lukrative Deals für US-Unternehmen in Russland an. Er fügt auch das Kleingedruckte hinzu: die Aufhebung der Sanktionen, vor allem der für Russland desaströsen Finanzbeschränkungen. Denn sonst könnten die US-Unternehmer ihre Gewinne ja gar nicht mit nach Hause nehmen. Putins Ziel ist die bedingungslose Anerkennung seiner Eroberungen und das Ende aller Strafen für Verbrechen und Völkerrechtsbruch, verbunden mit der Option, die Kämpfe jederzeit wieder aufzunehmen. So stellt er sich einen Waffenstillstand und den Sieg über den Westen vor.

Damit es dazu nicht kommt, sollten die Europäer den Amerikanern Putins große Schwächen klarmachen. Und dass es einen besseren Deal für die USA gibt. Trump scheint derzeit von der russischen Hinhaltetaktik genervt zu sein. Darin liegt die Chance, Putins Manipulationsversuche gegenüber Trump zu durchkreuzen. Anders als von den Pro-Putin-Brigaden in Deutschland und Amerika behauptet, sind die kollektiven Finanzsanktionen westlicher Staaten nämlich sehr wirkungsvoll. Sie begrenzen die Einnahmen des russischen Staats und damit das Geld, das Putin für den Krieg zur Verfügung steht. Auf 500 Milliarden Dollar schätzt der EU-Sanktionsbeauftragte David O’Sullivan die Verluste Russlands seit der umfassenden Invasion der Ukraine 2022. Das ist weit mehr als der gesamte durch die Kriegsausgaben aufgeblähte russische Staatshaushalt 2024.

Die Europäer können noch mehr tun. Sie sollten die Importe von russischem Flüssiggas nach Europa endlich stoppen. Die EU-Kommission hat soeben vorgeschlagen, alle Einfuhren bis Ende 2027 zu beenden. Es darf gern auch früher sein, denn nichtrussisches Gas gibt es genug auf der Welt. Der rapide sinkende Ölpreis wirkt in dieselbe Richtung.

Europa sollte sich das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg nicht von Putin stehlen lassen. Es war nicht nur der Sieg der Russen, sondern auch der Sieg der Ukrainer, der Polen, der Franzosen, Briten, Amerikaner und vieler anderer. Ein Angriffskrieg muss Folgen haben, das ist eine der wichtigsten Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg. Und deshalb dürfen Sanktionen auch nur insoweit aufgehoben werden, wie sich Russland mit der Ukraine am Verhandlungstisch auf die Rückgabe besetzter Gebiete einigt.

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