DIE ZEIT: Herr Thiele, am Mittwoch haben sich SPD und Union auf eine Wehrdienstreform geeinigt: Alle 18-jährigen Männer sollen künftig verpflichtend gemustert werden, es soll einen Fragebogen geben, um ihre Bereitschaft zum Wehrdienst zu erfassen. Bei zu wenigen Freiwilligen droht ein Losverfahren. Wird das die Personalnot der Bundeswehr lösen?
Ralph Thiele: Nein, überhaupt nicht. Aber lassen Sie mich mit dem Positiven beginnen: Nach fast vier Jahren russischer Vollinvasion in der Ukraine ist es ein Fortschritt, dass wir künftig systematisch alle potenziell wehrdienstfähigen jungen Männer erfassen wollen. Wir wissen dann endlich, wo sie wohnen, was sie können und wer überhaupt infrage kommt. Diese Erfassung ist ein längst überfälliger Schritt, aber einer, der viel zu spät kommt.
ZEIT: Hat die Bundeswehr also bald genug Soldaten, um Deutschland verteidigen zu können?
Thiele: Nein. Die Politik setzt wieder auf Freiwilligkeit, das hat noch nie wirklich funktioniert. Deutschland ist eine alternde Gesellschaft, der Pool an jungen Menschen ist klein. Um diese wenigen konkurrieren nicht nur die Streitkräfte, sondern auch Polizei, Feuerwehr, Pflege und die Wirtschaft. Jeder will die Jungen für sich gewinnen. Als Folge ist es extrem schwer, überhaupt genug Interessierte zu finden. Und selbst wenn wir sie gewinnen, gehen viele schon nach kurzer Zeit wieder.
ZEIT: Woran scheitert es, die Rekruten in der Bundeswehr zu halten?
Thiele: Die Realität in der Truppe ist ernüchternd. Viele junge Leute kommen in marode Kasernen, veraltete Strukturen und haben kaum Gestaltungsspielraum. Sie sollen ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, für eine Organisation, die ihnen oft weniger bietet als das Kinderzimmer zu Hause. Kein Wunder, dass die Motivation im Keller ist und viele schnell wieder abspringen. Dazu kommt: Werte wie Disziplin und Pünktlichkeit sind heute keine Selbstläufer mehr. In manchen Kasernen liegt der Krankenstand bei 50 Prozent, das spricht Bände über die Stimmung.
ZEIT: Wie steht es um die Ausrüstung?
Thiele: Auch hier sieht es düster aus. Nehmen Sie die Panzerhaubitzen: Auf dem Papier haben wir über 100. Tatsächlich stehen die meisten in der Werkstatt oder sind nicht einsatzbereit. Von den paar Dutzend, die funktionieren, geht die Hälfte in die Ukraine. Vor Ort bleibt kaum etwas übrig. Die Soldaten erleben einen Mangel an allem, Munition, Waffensystemen, moderner Kommunikation. Das ist kein Arbeitsplatz, der stolz macht.
ZEIT: Was fehlt denn in der geplanten Wehrdienstreform, um diese Zustände zu verbessern?
Thiele: Die Reform setzt wieder auf die alten Rezepte: Gehaltserhöhung, bessere Unterkünfte, ein bisschen Kosmetik. Die eigentliche Motivation entstünde aber woanders, durch Sinn, Verantwortung, Entwicklungsmöglichkeiten. Davon bietet die Bundeswehr zu wenig.
