Donezk, Luhansk, Charkiw, Sumy: In vier ostukrainischen Regionen hat Russland in den mehr als zwei Jahren, in denen sein Militär ununterbrochen in der Offensive ist, regelmäßig Vorstöße erzielt und neue Fronten eröffnet. In einer Region aber – abseits Chersons, wo das Dnipro-Delta die gleichnamige Regionalhauptstadt vor Bodenangriffen schützt – bildeten sämtliche Karten des Frontverlaufs in all der Zeit weitgehend Stillstand ab: Saporischschja. War dieser Stillstand im Sommer 2023 Zeugnis der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive, ist er seither ein Zeichen dessen, dass die Ukraine an mindestens einer Front keine russischen Durchbrüche zu befürchten hatte. Bislang – denn das hat sich nun geändert.
Noch im August lagen nicht mal 15 Prozent des von Russland neu eroberten Gebiets im Süden der Ukraine; im September waren es bereits 40 Prozent. Im vergangenen Monat eroberte das russische Militär schließlich 267 Quadratkilometer, von denen 165, also mehr als die Hälfte, in Saporischschja oder der angrenzenden Region Dnipropetrowsk lagen. In den ersten beiden Novemberwochen, in denen die Angreifer fast genauso viel Territorium besetzt haben wie im gesamten Oktober, war der Süden ebenfalls das Gebiet mit dem größten russischen Vormarsch. Während die Aufmerksamkeit zuletzt vor allem auf den erbitterten Kämpfen um Pokrowsk lag, ist Russland nun kurz davor, in Saporischschja einen gänzlich neuen Schwerpunkt der Angriffe zu setzen.
Im Sommer hatten russische Truppen östlich der Stadt Huljajpole nahe der Grenze zwischen Saporischschja und Donezk im Rahmen der Pokrowsk-Offensive den gesamten Südwesten des Donbass besetzt. Ein Fluss sowie dahinter liegende Anhöhen hielten die Angreifer dort bei ihrem Vormarsch in nördlicher Richtung auf – nicht aber bei ihren Attacken in westlicher Richtung auf Huljajpole. Diese schienen lange als Nebenschauplatz. Schließlich entsprach das Vormarschtempo dort auch in dieser Zeit zunächst dem auch an anderen Frontabschnitten üblichen Vormarsch um wenige hundert Meter pro Tag.
Das änderte sich aber schlagartig Anfang November. Am vergangenen Donnerstag meldete das ukrainische Militärkommando Süd, ein russischer Angriffsversuch in Richtung von Huljajpole, der einzigen Stadt in der dörflich geprägten Region, sei abgewehrt worden. Doch schon am Dienstag musste das Militär der eigenen Mitteilung widersprechen: Man habe sich „auf vorteilhaftere Positionen“ zurückziehen müssen, teilte das Kommando mit. Innerhalb von nur einer Woche kam das russische Militär somit um insgesamt fast zehn Kilometer voran. Das Ergebnis: Huljajpole, monatelang lediglich aus dem Süden, also aus schon seit Kriegsbeginn besetztem Gebiet heraus bedroht, könnte nun eingekreist werden.
Die für die Verteidigung in dem Gebiet bedeutende Stadt befindet sich in einer ähnlichen Situation wie Pokrowsk vor wenigen Monaten: nicht umzingelt, aber von mehreren Seiten bedroht und nur noch unter Risiken zu versorgen. Denn geolokalisierte Videos belegen, dass der jüngste russische Vorstoß in das Dorf Danyliwka eine Nachschubroute unterbrochen hat, die vom Knotenpunkt Pawlohrad, 100 Kilometer nördlich, nach Huljajpole führt. Die Stadt kann zwar weiterhin über eine Straße Richtung Westen über die Stadt Orichiw versorgt werden. Doch diese liegt nur wenige Kilometer nördlich der Südfront und kann damit auch von kleinen russischen Drohnen erreicht werden. Zu den beiden Routen gibt es nur wenige Alternativen. Ukrainische Militärblogger und Soldaten warnen vor einem ähnlichen Kontrollverlust wie im Frühling 2024 nach der Eroberung von Awdijiwka. Das ebnete Russland damals den Weg zur Einnahme großer Teile von Donezk.
Wie konnte es dazu kommen und vor allem, so schnell? Eine Antwort findet sich zwischen den Zeilen einer Mitteilung des militärnahen ukrainischen Kartendiensts vom 1. November, noch vor dem nicht mehr zu übersehenden russischen Vormarsch der vergangenen Tage. Mehr als zwei Drittel des im Oktober besetzten oder von russischen Soldaten attackierten Gebiets in der gesamten Ukraine entfielen auf den Sektor Huljajpole, schrieben die Analysten von – obwohl nur jeder sechste Angriff in diesem Frontabschnitt stattfand. Die naheliegende Schlussfolgerung: Die Ukraine hatte, ausgelastet mit der Verteidigung von Pokrowsk, bei Huljajpolje einfach nicht genug Soldaten zur Verfügung, um nennenswerten Widerstand zu leisten; der Aufwand für die Angreifer war geringer als woanders. Der keine zwei Wochen später vom Militär bestätigte Rückzug belegt das.
Weitere Angaben von Militärexperten und -bloggern sprechen ebenfalls dafür. Spätestens im September registrierten Militärblogger größere Verschiebungen russischer Truppen in das Gebiet hinein; das ukrainische Analystenteam sieht sie sogar als so bedeutend an, dass es davon ausgeht, der Angriff auf Saporischschja über Huljajpole werde noch bis ins kommende Jahr hinein ein Schwerpunkt der russischen Offensive werden. Der ukrainische Militärexperte Konstantin Maschowez, der für seine detaillierten Auflistungen der russischen Einheiten entlang der Frontlinie bekannt ist, geht von neun russischen Brigaden aus, die derzeit dort stationiert seien.
Auf ukrainischer Seite hingegen wird der Sektor vor allem von der 110. mechanisierten Brigade verteidigt – die erst Anfang Juli bei einem russischen Raketenangriff auf einen Kommandoposten ihren Kommandeur und mutmaßlich weitere Angehörige ihrer Führung verlor und daher noch nicht vollständig reorganisiert sein dürfte. Russland sei in dem Gebiet in klarer Überzahl, schreibt der Experte Maschowez, die Prognose für die Ukraine sei „unvorteilhaft“. Die russischen Truppen seien „kurz davor, den gesamten Verteidigungssektor Huljajpole aus nördlicher Richtung zu umgehen und sich seiner Eroberung zu widmen“.
Die Konsequenzen könnten für die Ukraine weit über das betroffene
Gebiet hinaus problematisch sein. Zwar hat das ukrainische Militär,
analog zu Russlands Verteidigungsbollwerk in Saporischschja, in dem die
Gegenoffensive 2023 stecken blieb, gestaffelte Befestigungen in Saporischschja angelegt. Doch diese sind vor allem auf
die Abwehr eines Angriffs aus dem Süden ausgerichtet. Sollte Russland
aber Huljajpole erobern, würden lediglich ein kleiner Fluss und derzeit
nur eine intakte Verteidigungslinie die Angreifer daran hindern, in
Richtung der dann 50 Kilometer weiter westlich liegenden Regionalhauptstadt
Saporischschjas, die ebenso heißt, zu marschieren. Dann müsste die Ukraine nicht mehr um Festungsstädte kämpfen, in denen dichter besiedeltes Hinterland verteidigt wird. Dann würde auch die Gefahr bestehen, eine Großstadt mit einer halben Million Einwohnern schützen zu müssen.
Eine Stadt dieser Größe zu erobern, ist Russland in diesem Krieg bislang nur einmal gelungen: Mariupol im Frühjahr 2022. Für die Stadt Saporischschja ist ein solches Szenario sehr unwahrscheinlich. Doch Russland müsste sie auch nicht einnehmen, um für eine humanitäre Katastrophe zu sorgen und die Ukraine zu destabilisieren. So ist etwa Cherson, ebenfalls eine Regionalhauptstadt, zwar von der Ukraine zurückerobert worden, wird seitdem aber täglich von russischer Artillerie bombardiert, mit kleinen Drohnen machen russische Soldaten geradezu Jagd auf Zivilisten. Cherson ist zwar frei, aber nur ein Viertel der Vorkriegsbevölkerung lebt noch dort. Für Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, hatte die Ukraine ein solches Szenario mit der Charkiw-Offensive im September 2022 abwenden können – doch ob den ukrainischen Truppen in diesem Krieg noch jemals derartig erfolgreiche Offensivaktionen gelingen, darf bezweifelt werden.
Sollte Russland einmal Saporischschja nahe genug kommen, um die Stadt ähnlich intensiv zu bombardieren wie seinerzeit Charkiw und derzeit Cherson, müsste sie womöglich teilweise evakuiert werden. Das liegt im Bereich des Möglichen, falls die Ukraine keinen Weg findet, den Vormarsch Russlands im Osten Saporischschjas zu stoppen. Derartige Sorgen könnten womöglich auch zur Weigerung der ukrainischen Militärführung beitragen, das nahezu umzingelte Pokrowsk aufzugeben: Zehntausende russische Soldaten, die derzeit um die Stadt oder die Kontrolle der Gebiete um sie herum kämpfen, wären dann auch für Saporischschja verfügbar.
Zwar würde das dem russischen Ziel widersprechen, den sogenannten
ukrainischen Festungsgürtel nordöstlich von Pokrowsk anzugreifen und die
Region Donezk komplett zu erobern – jenes Szenario, das als Wladimir
Putins Plan für die kommenden Monate gilt. Doch die politische Dimension
der von seiner Armee eroberten Quadratkilometer bereinigt diesen
Widerspruch. Denn Russlands Staatschef führt den Krieg nicht, um konkrete Gebiete unter Kontrolle zu bringen. Er versucht, die ukrainische Armee, Wirtschaft, Bevölkerung und politische Führung – sowie den Willen ihrer westlichen Unterstützer – durch einen Abnutzungskampf aufzureiben. Ob das nun in Donezk oder in
Saporischschja passiert, ist zweitrangig.
Ein weiterer politischer Aspekt der neuen Front: Bedeutende Gebietsgewinne in der Südukraine würden Putins Forderung mehr Gewicht verleihen, wonach die Ukraine für eine Waffenruhe nicht nur den Rest der Region Donezk kampflos an Russland übergeben soll. Sondern auch Saporischschja – samt ihrer Hauptstadt und Hunderttausenden dort lebenden Menschen.
Die Zitate: Merz für mehr Mobilmachung in der Ukraine
Nach Kriegsbeginn durften erwachsene Männer die Ukraine lange Zeit nur mit wenigen Ausnahmen verlassen – obwohl Männer unter 25 Jahren nicht zum Kriegsdienst verpflichtet werden. Doch Ende August lockerte die ukrainische Regierung die Regelungen. Seitdem dürfen auch 18- bis 22-Jährige ausreisen. Das Ergebnis: Zehntausende junge Männer verlassen das Land. So hat die EU im September fast 80.000 Ukrainern Asyl gewährt, ein Anstieg um fast die Hälfte gegenüber dem Vormonat. Der Anteil volljähriger Männer stieg dabei auf 47 Prozent, erstmals erhielten mehr Männer als Frauen aus der Ukraine in der EU Schutz.
Die Lockerung der Ausreiseregelung stößt auch auf Kritik, da der ukrainischen Armee Soldaten fehlen. Bereits im vergangenen Jahr forderten die USA das Land dazu auf, auch jüngere Männer einzuziehen. Anlässlich des jüngsten Anstiegs an Flüchtlingen forderte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem Kurswechsel auf:
Selenskyj räumte derweil in einem Gespräch mit dem US-Portal ein, dass die Forderung nach mehr Rekruten auch aus dem Militär komme. Dennoch müsse das Ausmaß der Mobilmachung „ausbalanciert“ sein. Angesichts der Forderungen von Partnerländern der Ukraine, mehr Soldaten einzuziehen, sagte Selenskyj:
Die wichtigste Meldung: Der Korruptionsskandal ist nicht vorbei
Als Reaktion auf den Korruptionsskandal beim ukrainischen AKW-Betreiber Enerhoatom, bei dem die Beschuldigten Schmiergeld von insgesamt mindestens 100 Millionen Dollar (86 Millionen Euro) gewaschen haben sollen, will sich die ukrainische Regierung konsequent zeigen: Zwei Minister wurden zum Rücktritt gedrängt; Regierungschefin Julija Swyrydenko will die Einkaufs- und Ausschreibungsverfahren in Staatskonzernen überprüfen; Präsident Wolodymyr Selenskyj verhängte Sanktionen gegen seinen früheren Geschäftspartner Tymur Minditsch, der im Zentrum der Affäre steht und die Ukraine kurz vor einer Razzia der Antikorruptionsbehörde Nabu verlassen hat.
Doch dass der Skandal damit verarbeitet ist, scheint sehr unwahrscheinlich. Denn die Antikorruptionsermittler haben nach eigenen Angaben mehr als 1.000 Stunden an Gesprächen der Beschuldigten untereinander abgehört und bislang nur einen Bruchteil davon veröffentlicht. Damit ist denkbar, dass weitere Ermittlungsergebnisse zu neuen Anschuldigungen führen könnten – und womöglich auch außerhalb des bisher betroffenen Energiebereichs.
Denn wie mehrere ukrainische Medien berichten, soll der mitbeschuldigte Enerhoatom-Mitarbeiter Ihor Fursenko nach Angaben der Ankläger auch beim Drohnenhersteller Fire Point angestellt gewesen sein. Aus Mitschnitten von Gesprächen der Beschuldigten untereinander gehe hervor, dass Fursenko eine Scheinanstellung bei Fire Point erhalten habe.
Damit weitet sich die Affäre nach dem Verdacht der Ankläger potenziell auf die Verteidigungsbranche aus. Bereits im August hatte der berichtet, dass der bedeutende Drohnenhersteller Fire Point im Visier der Antikorruptionsermittler stehe. Demnach würden sie Verbindungen des Unternehmens zu Minditsch vermuten, dem Hauptbeschuldigten im aktuellen Verfahren.
Sowohl ein Anwalt Minditschs als auch Fire Point haben dem Bericht zufolge jegliche geschäftliche Verbindungen dementiert. Doch schon die Erwähnung von Fire Point in den Ermittlungen kann für Unruhe sorgen: Ein Korruptionsverdacht im für das Land überlebenswichtigen Verteidigungssektor dürfte den Druck auf die Regierung weiter vergrößern.
Weitere Nachrichten: Bürgergeld, deutsche Finanzierung und Hilfe Nordeuropas
- Die Bundesregierung plant nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa und der -Zeitung Leistungskürzungen für Ukrainer, die nach dem 1. April nach Deutschland geflüchtet sind. Anstatt des Bürgergeld-Satzes von 563 Euro pro Monat sollen sie Hilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 441 Euro erhalten. Über eine mögliche Verpflichtung zur Arbeit wird demnach noch diskutiert.
- Deutschland stockt im kommenden Jahr seine Militärhilfen für die Ukraine auf. Anstelle von 8,5 Milliarden Euro sind laut dem vom Haushaltsausschuss gebilligten Etat für 2026 nun 11,5 Milliarden Euro dafür vorgesehen – etwa zwei Prozent des vorgesehenen Bundeshaushalts. Mit den zusätzlichen Mitteln sollen Raketenabwehrsysteme, Artillerie, Drohnen und gepanzerte Fahrzeuge finanziert werden.
- Die baltischen und skandinavischen Staaten haben 500 Millionen Dollar (knapp 430 Millionen Euro) für das sogenannte Purl-Programm der Nato zugesagt. Deutschlandbeteiligt sich mit weiteren 150 Millionen Euro daran. Der im Sommer aufgesetzte Mechanismus, in dessen Rahmen europäische Länder Waffen aus US-Beständen für die Ukraine kaufen, ersetzt die früheren US-Waffenlieferungen aus der Regierungszeit von Joe Biden. Die bislang von den europäischen Staaten beigesteuerten Summen liegen aber weit unterhalb der damaligen US-Beiträge.
