Dass Wolodymyr Selenskyj große Krisen meistern kann, hat er
bereits öfter bewiesen. Mit einer solchen innenpolitischen Krise wie diese Woche wurde
der ukrainische Präsident jedoch noch nie konfrontiert.
Das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) deckte ein groß angelegtes Korruptionsschema im
ukrainischen Energiesektor auf. An dessen Spitze: Tymur Minditsch, ein enger
Vertrauter Selenskyjs und Miteigentümer seiner ehemaligen
Fernsehproduktionsfirma Kwartal 95.
So soll der Geschäftsmann Minditsch zusammen
mit dem heutigen Justiz- und früheren Energieminister Herman Haluschtschenko einen enormen Einfluss auf das Unternehmen Energoatom ausgeübt haben, das für
ukrainische Kernkraftwerke zuständig ist. Den Vorwürfen nach hätten die Lieferanten von
Energoatom zehn bis 15 Prozent des Vertragswerts als Schmiergeld zahlen müssen,
um ihre Aufträge nicht zu verlieren. Besonders sensibel: Dabei soll es auch um Aufträge für den Bau von Schutzräumen der Kraftwerksinfrastruktur gegangen sein. Insgesamt soll die Gruppe so 100 Millionen Euro an Schmiergeld gewaschen haben.
Ausgerechnet vor dem Winter
Die Vorwürfe kommen zu einem brisanten Zeitpunkt: Der Ukraine steht ein besonders schwerer Winter bevor,
womöglich der schwerste bisher in diesem Krieg. Seit Anfang Oktober beschießt
Russland wieder systematisch ukrainische Energieanlagen. In den meisten Regionen des Landes wird deshalb regelmäßig der
Strom abgeschaltet, in der Hauptstadt Kyjiw müssen die Menschen rund die Hälfte
des Tages ohne Strom auskommen. Dass Machenschaften im Energiebereich ausgerechnet jetzt bekannt werden, hat gesellschaftliche Sprengkraft.
Der Fall von Tymur Minditsch scheint bestens dokumentiert zu sein. 15 Monate lang hat das Nabu ermittelt, rund 1.000 Stunden Gespräche wurden abgehört – Gerüchten
zufolge teilweise aus der Nähe seiner Wohnung. Minditsch befindet sich nicht mehr in der Ukraine, sondern hat das Land kurz
vor der Bekanntgabe der Vorwürfe verlassen und soll sich nun in Israel
aufhalten. Er durfte als Mann im wehrfähigen Alter ausreisen,
weil er drei Kinder hat. Der Zeitpunkt seiner Ausreise deutet jedoch darauf
hin, dass er möglicherweise vorgewarnt wurde.
Das Machtwort ließ zwei Tage auf sich warten
Für Selenskyj war der Fall Minditsch von Anfang an ein schwerer Schlag.
Kaum jemand jenseits des einflussreichen Stabschefs Andrij Jermak hatte in
seinem System so viel Macht. In der aktuellen ukrainischen Regierung gelten
gleich vier Minister als eine Art „Quote Minditschs“. Auf den vom Nabu veröffentlichten Mitschnitten geht es teilweise um die Verteilung der Posten
bei der letzten Regierungsumbildung im Sommer. Außerdem könnte Minditsch auch
ein einflussreicher Hintermann in der ukrainischen Rüstungsbranche sein. Das
mit ihm in Verbindung gebrachte Unternehmen Fire Point produziert
Langstreckendrohnen und den Flamingo-Marschflugkörper.
Im Sommer hatte Selenskyj versucht, die Befugnisse der Antikorruptionsorgane
einzuschränken. Damit hat er sich in die Defensive gebracht.
Hätte er Minditsch und beschuldigte Minister in Schutz genommen, hätte das in
der Ukraine wahrlich keiner verstanden – auch seine treuen Unterstützer nicht.
So hat der ukrainische Präsident noch in seiner Abendansprache am Montag die
Korruptionsermittlungen grundsätzlich begrüßt. Danach reiste er nach Cherson und ließ sich Zeit bis Mittwochabend, um ein Machtwort auszusprechen.
„Die Lage in der Ukraine ist derzeit für alle schwierig“, hieß es
dann vom ukrainischen Präsidenten. Alle würden unter Stromausfällen, russischem
Beschuss und schmerzhaften Verlusten leiden. „Es ist völlig
abnormal, dass es bei all dem noch Machenschaften im Energiesektor gibt“, sagte Selenskyj. Justizminister
Haluschtschenko sowie seine Nachfolgerin im Energieministerium, Switlana Hryntschuk, reichten daraufhin noch am Mittwoch ihre Rücktrittsschreiben ein. Nächste Woche soll das ukrainische Parlament über deren
Entlassung formell entscheiden. Zudem werden gegen Tymur Minditsch und einen
weiteren Beschuldigten durch den Nationalen Sicherheitsrat persönliche
Sanktionen verhängt.
Die Kritik an Selenskyj wächst
Im ersten Schritt gelingt es Selenskyj damit, die Krise einzudämmen und das
Vertrauen vor dem herausfordernden Winter nicht zu verspielen. In Umfragen lagen seine Vertrauenswerte zuletzt stabil bei rund 60 Prozent – ein guter Wert für jeden ukrainischen Präsidenten, auch im Krieg. Größere politische
Umbrüche oder gar wieder Straßenproteste sind zumindest zunächst nicht zu
befürchten.
Der bittere Beigeschmack wird allerdings bleiben. Zum einen, weil der kommende Winter der Bevölkerung ohnehin alles abverlangen wird – und deshalb 100 Millionen Euro an veruntreuten Geldern im Energiesektor kaum in Vergessenheit geraten werden.
Und zum anderen, weil seine Innenpolitik sowie seine personellen
Entscheidungen immer wieder Fragen aufwerfen – im Kontrast zu seinem Auftreten auf internationaler Bühne. Bleibt seine innenpolitische Linie unverändert,
drohen weitere Krisen und Skandale.
Da hilft es auch nicht, dass die Antikorruptionsorgane es in der Ukraine offenbar selbst in Kriegszeiten und unter enormem Druck schaffen, ihre Arbeit zu leisten. Und einen Skandal aufzudecken, der selbst den Präsidenten unter Rechtfertigungsdruck stellt.