Wenn Olexander K. aus dem ukrainischen Tschernihiw über die Lage in seiner Stadt redet, dann wählt er seine Worte mit Bedacht. Das Leben sei dort gerade sehr aufreibend, sagt der 50-jährige Ukrainer nach einer kurzen Denkpause im Telefongespräch mit der ZEIT. Schlimmer sei es nur in den ersten Wochen des Krieges gewesen.
Damals hatten russische Truppen die 300.000-Einwohner-Stadt fast zwei Monate lang belagert, bis sie sich schließlich geschlagen zurückziehen mussten. Seit Kurzem aber attackiert Russland Tschernihiw wieder beinahe täglich, diesmal aus der Luft. „Nachdem russische Raketen ein Kraftwerk und einige Umspannwerke in unserer Region getroffen haben, fällt der Strom nun oft in der gesamten Stadt stundenlang aus. Das heißt auch, dass dann kein Wasser mehr aus der Leitung fließt und die Straßen abends dunkel bleiben“, berichtet K. „Wir schlafen wieder regelmäßig im Hausflur, weil die Zwischenwände Schutz bieten, falls eine Drohne das Haus trifft.“
Seinen vollen Namen will K. nicht in der Zeitung sehen. Denn vor einigen Tagen hat die Stadtverwaltung in Tschernihiw die Bewohner und auch die Medien angewiesen, keine Informationen über den Zustand der Strom- und Wasserversorgung zu verbreiten. Russlands Militärs sollen nicht erfahren, was ihre Raketen und Drohnen zerstört und beschädigt haben.
Die jüngsten Angriffe auf Tschernihiw sind Teil des nunmehr dritten und
wohl gefährlichsten Versuchs Russlands, das Energiesystem der Ukraine
auszuschalten. Seit dem Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 hat Russland bereits zwei große Angriffswellen gestartet: im Herbst 2022 und im Frühjahr 2024. Damit wollte der russische Diktator Wladimir Putin die Wirtschaft des Landes lähmen und den Widerstand der Menschen brechen. Die Angreifer haben dabei große Schäden angerichtet, aber ihr Ziel bisher nicht erreicht. Von dem Vorhaben abgerückt sind sie allerdings nicht.
Allein im Oktober hatte der Kraftwerksbetreiber DTEK mindestens drei große Angriffswellen gemeldet. Neben Städten wie Tschernihiw, Sumy und Charkiw ist vor allem die Hauptstadt Kyjiw im Fokus. Im September zerstörten insgesamt 19 russische Geran-Drohnen das Trypolska-Kraftwerk im Kyjiwer Umland. Die Anlage wurde bereits 2024 beschädigt und gerade erst instand gesetzt worden. Am 17. Oktober trafen Drohnen dann ein Kraftwerk direkt in der Hauptstadt Kyjiw. Die schwerste Attacke liegt erst eine Woche zurück. Am 30. Oktober wurden gleich drei Kohlekraftwerke beschädigt. Besonders besorgniserregend jedoch: Am selben Tag trafen russische Drohnen die Umspannwerke der Kernkraftwerke Chmelnyzkyj und Piwdennoukrainsk. Mindestens zwei wichtige Stromleitungen wurden dabei zerstört. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA reagierte alarmiert: „Die Gefahr für die nukleare Sicherheit bleibt sehr real“, heißt es in einer offiziellen Mitteilung.
Die Angst, dass die ukrainische Energieinfrastruktur irgendwann unter der Last der Angriffe kollabieren könnte, kam seit dem ersten Kriegswinter immer wieder auf. Bestätigt haben sich die düsteren Prognosen bisher nicht. Jurij Koroltschuk, Leiter des Kyjiwer Instituts für Energiestrategien, erklärt die Resilienz so: Die vergangenen Winter waren sehr mild. Außerdem hat Russland die drei Atomkraftwerke nicht angegriffen, die etwa 50 bis 60 Prozent des ukrainischen Stroms produzieren. Auf der anderen Seite ist auch der Verbrauch gesunken, weil viele Menschen das Land verlassen haben und die Industrie ihre Produktion zurückgefahren hat. „Das heißt aber nicht, dass all diese Faktoren die Stabilität des Systems auch weiterhin garantieren werden“, erklärt der Experte. Ein kalter Winter und neue russische Angriffe können das Netz irgendwann tatsächlich an seine Grenzen bringen.
Koroltschuk schätzt, dass die Produktionskapazitäten für Strom und Wärme nach allen Angriffen und Reparaturen etwa 60 Prozent des Vorkriegsniveaus erreichen. Auf ähnliche Schätzungen kommt die Internationale Energieagentur IEA in ihrem jüngsten Lagebericht zur Ukraine. Vor der russischen Invasion verfügte die Ukraine demnach über eine Erzeugungskapazität von insgesamt 37 Gigawatt Strom pro Jahr. Nach den beiden großen Angriffswellen Ende 2022 und Anfang 2024 sowie den zwischendurch ausgeführten Reparaturen standen Anfang Oktober noch etwa 16,7 GW bereit. Weitere 2,1 GW Strom könnten aus der EU importiert werden. Das reicht nur knapp, um den Bedarf von 16 bis 17 GW zu decken, wie er im vergangenen Winter gemessen wurde. „In einem überdurchschnittlich kalten Winter könnte die Nachfrage auch mehr als 18 GW betragen“, heißt es in der IEA-Analyse.