Dieser Blick.

Leer und wach gleichzeitig trifft er einen bis ins Mark. Was muss dieser Mann durchlebt haben, um in diesem Zustand zu enden? Und das ist nur, was wir auf Fotos und Videos sehen können. Wie es in seinem Inneren aussieht, kann niemand nachvollziehen – und man hätte wohl auch Angst davor.

Der Mann heißt Juri Gultschuk. Er war 20 Jahre alt, als er sich freiwillig zum Militär meldete und kam zur 36. separaten Marinebrigade in Mariupol. „Die Armee ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist.“ Das sagte er zu seiner Mutter Milana, die nicht wollte, dass ihr Sohn Soldat wird.

Nur ein halbes Jahr später kam der brutale russische Angriffskrieg in die Ukraine. Juri verteidigte mit seiner Einheit die Großstadt am Asowschen Meer, die Russland so erbarmungslos niederbombte. Wie so viele seiner Kameraden blieb auch ihm nur der Rückzug ins Stahlwerk Asowstal. Mehr als einen Monat hatten sie kaum etwas zu essen und zu trinken.

Am 12. April 2022 kamen die, die den Bomben-Horror überlebten, in russische Gefangenschaft. Der Horror ging weiter, er wurde nur anders.

Nach zweieinhalb Jahren in russischer Gefangenschaft kommt Juri Gultschuk bei einem Gefangenenaustausch am 14. September endlich frei. Bei seiner Rückkehr in die Ukraine wird er gefilmt. In seinem Gesicht regt sich nicht ein Gefühl. Fast statisch umarmt er seine Mutter. Sein Blick ist das Eingangstor zu Erinnerungen aus der Hölle, die er nie vergessen wird – und die er nicht mal formulieren kann. Denn er kann nicht mehr sprechen. Er, der ein Talent im Erlernen von Fremdsprachen hat und chinesische Philologie studierte, hat seine Sprache verloren.

Hunger ist noch schlimmer als Schläge

Was haben die Russen mit diesem Mann gemacht? Wie viel Folter, physisch wie psychisch, musste Juri durchleiden?

Seine Mutter Milena ist Ärztin, hat sich Selbsthilfegruppen mit anderen Angehörigen von russischen Gefangenen angeschlossen. Sie weiß, dass Folter und vor allem Hunger die Mittel sind, mit denen die Russen systematisch und oft mit sadistischer Freude Ukrainer langsam zerstören.

„Ich habe herausgefunden, dass die Kriegsgefangenen drei Löffel Brei bekommen, eine halbe Tasse Tee und zwei dünne Scheiben Brot am Tag“, erzählte sie Mitte Juni in einem Interview. „Sie können nicht normal trinken, es gibt nur eine Tasse Wasser am Tag für acht Menschen. Sie werden gezwungen, 18 Stunden am Tag zu stehen.“

Vor allem der Hunger macht ihr Sorgen, noch mehr als die Schläge. Denn der Körper beginnt, sich selbst zu essen. Zuerst verbrennt er alles Fett, dann werden die Muskeln zerstört. Auch der Herzmuskel wird immer dünner, was am Ende oft zu Herzversagen führt.

Als im Januar Mitgefangene ihres Sohns freikommen, erfährt Mutter Milana, dass Juri von einem Wärter, den sie „Doktor Evil“ nennen, besonders grausam gefoltert wird. Wiederholt wurde er mit Elektroschockern traktiert, bekommt eine „Sonderbehandlung“, weil er nicht so reagiert, wie es Putins Folterknechte erwarten. Juri reagiert laut Berichten seiner Kameraden einfach gar nicht. Deswegen wird er besonders heftig und oft getreten, geschlagen, gequält.

Ob er dabei seine Sprechfähigkeit verlor oder ob er sich so weit in sich zurückzog und deswegen nicht mehr sprechen kann, weiß man noch nicht. Juri ist jetzt 22 Jahre alt.