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Wir fürchten den Winter

Wieder stellen wir uns auf den schlimmsten aller Winter ein. Dieses Mal, fürchten wir, könnte er wirklich kommen.

Es ist erst Anfang November, aber die Gewohnheiten vergangener Winter kehren zurück. Wir laden die Lampen auf und die Powerbanks. Wir gießen heißes Wasser in Thermoskannen, wir kochen vor.

Wir essen ukrainischen Borschtsch unter dem Lichtkegel einer Schreibtischlampe. Wir, das sind an diesem Nachmittag meine Freundin Lena, ihre Großmutter und ich. In der Wohnung der 92-Jährigen ist der Strom ausgefallen. Es ist erst 16.30 Uhr, aber ohne die aufladbare Schreibtischlampe wäre der Raum fast dunkel. Die Dämmerung setzt ein.

„Oma, was machst du normalerweise, wenn der Strom weg ist?“, fragt Lena.

„Dann lege ich mich ins Bett und warte, bis das Licht wieder angeht.“

Am Vortag hatte ihre Großmutter von 16 bis 19.30 Uhr keinen Strom. An diesem Tag ebenso.

Die Großmutter ist fit. Sie hat die Suppe gekocht. Sie trägt spontan ein langes Gedicht des polnischen Dichters Adam Mickiewicz vor. An Nachmittagen guckt sie am liebsten politische Talkshows.

„Wie blicken Sie auf den nahenden Winter?“, frage ich sie. „Fürchten Sie, dass der Strom noch öfter ausfallen wird?“

„Ich würde mich dafür schämen, mich zu beschweren“, antwortet sie. „Wir alle müssen leiden.“ Was, fragt sie, sollen denn die alten Frauen sagen, die nahe der Front ihr Zuhause verlieren und ihr Leben in eine kleine Tasche verstauen, mit der sie fliehen?

Niemand will sich beschweren im Krieg, weil es immer jemanden gibt, dem es schlechter geht: die Familienangehörigen im nördlichen Tschernihiw, wo der Strom noch länger ausfällt. Die Freunde mit kleinen Kindern, die kein Geld haben für neue aufladbare Lampen. Rentner, die nicht aus ihrer Wohnung im Hochhaus kommen, weil der Fahrstuhl nicht fährt.

Bevor wir gehen, richtet Lena auf dem Handy ihrer Großmutter eine App ein, die ihr anzeigt, wann sie am nächsten Tag Strom haben wird. Damit die Dunkelheit für sie nicht aus dem Nichts kommt.

Noch laufen die Stromausfälle meistens nach Plan. Die russischen Angriffe mit Drohnen und Raketen haben die Energieinfrastruktur so weit zerstört, dass nicht alle Haushalte in Kyjiw gleichzeitig mit Strom versorgt werden können. Nur kritische Infrastruktur, Krankenhäuser und Ministerien etwa, erhalten pausenlos welchen. Alle anderen wechseln sich ab. Die Stadt informiert am Vorabend, welche Straßen zu welcher Uhrzeit ohne Strom auskommen müssen.

Unverlässlicher Stromplan

Aber der Zeitplan ist oft nicht verlässlich. Der 89-jährige Großvater einer Bekannten, der im 15. Stock lebt, harrte manches Mal im Erdgeschoss aus, weil der Fahrstuhl nicht kam, obwohl er seinen Tag nach dem Stromplan ausgerichtet hatte.

Wir Journalisten fragen bei den Behörden und Energieunternehmen immer wieder nach, wie viel von der Infrastruktur beschädigt worden ist. Sie weichen aus: Das ließe sich nicht sagen, denn was zerstört ist, wird wieder repariert. Sie wollen nicht, dass Russland weiß, wie erfolgreich es mit seinen Angriffen war.

Das ukrainische Energiesystem galt immer als resilient. Die Ukraine exportierte Energie, dadurch ist ihr Stromnetz gut ausgebaut. Fällt ein Objekt aus, springt ein anderes ein. Aber wie lange noch?

Auf unseren Handys verfolgen wir in Echtzeit, wohin die Raketen und Drohnen fliegen. Oft surren sie über unseren Dächern, manchmal hören wir ihre Einschläge. Später lesen wir, wen sie getötet und was sie zerstört haben. Leschas Hinterhof. Marias Hausblock. Beide erzählen mir Tage später, dass sie kaum fassen können, wie knapp es war.

Im vierten Jahr des Krieges hat Russland seine Strategie geändert: Es greift gezielt Gasanlagen an, damit die Heizungen kalt bleiben. Und es lässt seine Drohnen öfter als früher auf immer dieselben Objekte niedersausen. Arbeiter, die nach einem Einschlag mit den Reparaturen beginnen, werden öfter durch die nächste Drohne getötet.

In den Nachrichten lesen wir:

„Die Armee des Aggressorlandes Russland griff in der Nacht die Region Mykolajiw mit Schahed-Kampfdrohnen an, was zu Schäden an der Energieinfrastruktur führte.“

„Die gesamte Region Donezk ist ohne Strom. Das Energieministerium berichtet, dass nach Angriffen auf Energieanlagen auch Verbraucher in den Regionen Saporischschja, Charkiw und Tschernihiw teilweise ohne Strom seien.“

„In der Nacht und am Morgen griff Russland mit Raketen und Drohnen massiv Energieanlagen in vier Regionen der Ukraine an.“