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Es wäre im Interesse beider Länder, zu verhandeln

Es sind wechselvolle Tage, die Wolodymyr Selenskyj und das von ihm regierte Land gerade durchleben. Als der ukrainische Präsident Ende vergangener Woche in die USA aufbrach, wollte er mit Donald Trump beraten, wie sie zusammen den Aggressor Wladimir Putin mit mehr Druck an den Verhandlungstisch zwingen können. Selenskyj brachte Landkarten mit – von der Front in der Ukraine und auch von russischer Infrastruktur, die mithilfe zusätzlicher US-Waffen, etwa der Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, zerstört werden könnte.

In der Ukraine keimte Hoffnung: Trump werde im besten Fall Putin klarmachen, dass es für Russland ab jetzt nur noch schlimmer wird, sagte etwa der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk, Oberstleutnant der Ukraine a. D., im Gespräch mit der ZEIT vor dem Treffen in Washington, D. C. Ein Standpunkt, den Selenskyj und seine Berater zu teilen schienen.

Doch es kam anders, wieder einmal. Noch vor Selenskyjs Ankunft vereinbarte Trump überraschend einen Gipfel mit Putin in Budapest. Im Gespräch mit Selenskyj dann, so berichten es mehrere Quellen gegenüber der und Reuters, soll Trump die mitgebrachten Karten zur Seite geschmissen haben. Trump soll Selenskyj ungehalten und fluchend dazu gedrängt haben, Gebiete an Russland abzutreten. Letzteres hat der US-Präsident zwar dementiert. Selenskyj aber musste ohne Zusagen für neue Waffen abreisen. Am Montag in Kyjiw blieb ihm wenig übrig, als zumindest seine Bereitschaft zu einem hypothetischen Dreiertreffen mit Trump und Putin in Budapest zu bekunden. „Wir kommen einem möglichen Ende des Krieges näher“, gab sich Selenskyj vor Journalisten zuversichtlich.  

Hat der US-Präsident also trotz allem doch noch die Möglichkeit für ein Ende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am Verhandlungstisch aufgetan? Oder hat Trump, wie schon mehrfach zuvor, im entscheidenden Moment den Druck von Putins Schultern genommen und damit die Ukraine geschwächt?

Die Erfolge ukrainischer Angriffe auf Russlands Ölindustrie

Zumindest die Voraussetzungen für ernsthafte Verhandlungen scheinen diesmal besser zu sein als vor dem russisch-ukrainischen Treffen im Mai in Istanbul und auch vor dem Gipfel zwischen Trump und Putin in Alaska. Denn beide Kriegsparteien befinden sich sowohl militärisch als auch wirtschaftlich in keiner guten Verfassung. 

Über den Sommer hinweg hatte Putin allen Grund, Verhandlungen hinauszuzögern. Zumindest solange Russlands Offensive lief und die Armee Tag um Tag etwa 20 Quadratkilometer des ukrainischen Territoriums besetzen konnte. In den vergangenen Wochen haben sich die Vorstöße jedoch deutlich verlangsamt. „Die russische Sommeroffensive ist gescheitert, denn sie hat den Russen keinen operativen Durchbruch verschafft“, sagt Markus Reisner, Oberst im Österreichischen Bundesheer, der den Krieg in der Ukraine von Beginn an intensiv analysiert. Im Oktober fielen im Schnitt täglich nur noch acht Quadratkilometer an die Besatzer. In den kommenden Monaten dürfte das Vorrücken der russischen Truppen weiter erschwert werden. Russland greift derzeit vor allem mit kleinen Gruppen an, die zu Fuß oder auf Motorrädern unterwegs sind. „In den Wintermonaten, wenn die Bäume kein Laub tragen, gibt es für die Soldaten kaum Möglichkeiten, sich vor Drohnen zu verstecken“, sagt Reisner. 

Noch wichtiger sind allerdings die ukrainischen Erfolge auf der strategischen Ebene. Seit Wochen steckt Russlands Ölwirtschaft wegen ukrainischer Angriffe in einer Krise. Ukrainische Drohnen haben in den vergangenen Wochen mindestens 18 große Raffinerien beschädigt. Nach Berechnungen von Reuters fallen mittlerweile 21 Prozent der Produktionskapazitäten zumindest vorübergehend aus. In einigen Regionen haben Tankstellenbetreiber den Verkauf von Treibstoff rationiert. Seit Juli mussten mindestens 360 Tankstellen (drei Prozent des Bestands) schließen, weil nicht genug Treibstoff vorhanden ist. Auch insgesamt lahmt die russische Wirtschaft. Für die Deckung des kriegsbedingten Defizits hat die Regierung in Moskau jüngst eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf nunmehr 22 Prozent beschlossen. Die meisten zivilen Branchen stecken bereits in einer Rezession.

Genau deshalb waren die Hoffnungen der Ukrainer groß, von den USA zusätzliche weitreichende Waffen wie den Marschflugkörper Tomahawk zu erhalten. Sie könnten die Ölbranche weiter dezimieren und so Putins weitere Pläne beeinflussen. „Rein militärisch wäre es wohl eine Übertreibung zu sagen, dass 10 oder 20 Tomahawks Russland das Rückgrat brechen könnten“, sagt der Kyjiwer Militärexperte Melnyk. „Aber sie könnten tatsächlich Putins Kalkül in diesem Krieg verändern. Wenn er sehen würde, dass dies kein Bluff ist.“