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„Kein Foto ist eine menschliche Verletzung wert“

ZEIT ONLINE: Herr Pilipej, Sie fotografieren den Krieg Russlands gegen die Ukraine seit der russischen Invasion 2022. Wie hat sich der Zugang für Fotografen in den Kriegsgebieten vom Beginn des Konflikts bis heute verändert? 

Roman Pilipej: Wenn man damals mit Soldaten im Osten arbeitete, konnte man, wenn sie einen kannten und einem vertrauten, Zeit mit ihnen verbringen. Man konnte mit ihnen zusammenleben und mehr tiefgründige Geschichten erzählen. Man konnte einfach umherstreifen und schauen, was los ist. „Phishing“ nannten wir das. Aber der Krieg hat sich verändert. Er wird oft als Drohnenkrieg bezeichnet, was auch stimmt. Mittlerweile ist bereits fünf Kilometer vor der Front das Risiko groß, dass die Drohnen dich aufspüren. Aber es gibt jetzt im vierten Jahr des Krieges auch andere Themen, die nicht an der Front stattfinden, sondern im westlichen Teil der Ukraine liegen. Rehabilitation, das Warten auf die Entlassung der Angehörigen, Kriegsgefangene.  

ZEIT ONLINE: Wie lange arbeiten Sie schon als Fotograf in der Ukraine?   

Pilipej: Angefangen als Fotojournalist habe ich während der Maidan-Proteste 2013, damals für die European Pressphoto Agency (EPA). Als 2014 der Krieg ausbrach, fing ich an, über den Konflikt in der Ostukraine zu berichten. Ich zog bald als EPA-Fotograf nach China und war dort fünf Jahre lang bis zum Beginn der russischen Invasion im Jahr 2022. Als der Krieg begann, war es für mich keine Frage, in China zu bleiben. Ich ging zurück in die Ukraine. Seither bin ich hier und berichte über den russischen Angriffskrieg. 

ZEIT ONLINE: Gibt es bei all den vielen Fotos, die Sie vom Krieg gemacht haben, ein Bild, das Sie bewegt?  

Pilipej: Es gibt dieses eine Foto, das ich gemacht habe. Ein Soldat namens Serhij. Ich traf ihn zufällig, als ich herumlief und einige Soldaten sah, die sich auf etwas vorbereiteten. Ich ging einfach zu ihnen und fragte: „Jungs, ihr macht euch bereit?“ Sie riefen, sie wollten „fischen“ gehen und machten Witze. Aber es war offensichtlich, dass sie an die Front gingen. Serhij fiel mir auf, mit seinem Bart, lächelnd, ein energiegeladener Mann.  

Ich unterhielt mich ein wenig mit ihm und machte ein Foto. Ich tauschte den Kontakt mit dem Kommandeur dieser Einheit aus. Später wurde dieses Foto in einer der großen Zeitschriften veröffentlicht, zwei Wochen danach. Und ich wollte dieses Bild mit Serhij teilen, ich schrieb an den Kommandeur und bat ihn, das Foto weiterzuleiten. Er sagte, er könne es ihm nicht mehr schicken, weil Serhij an der Front gestorben sei. Vom Kommandeur bekam ich den Kontakt zu Serhijs Ehefrau. Ihr habe ich die Zeitschrift und einige Fotos als Andenken geschickt. 

ZEIT ONLINE: Was fehlt Ihnen in der Berichterstattung zu diesem Krieg? 

Pilipej: Ich arbeite mit dem Militär, und dieser Teil ist wichtig, den muss man zeigen. Aber es ist auch wichtig zu zeigen, wie die Zivilbevölkerung vom Krieg betroffen ist. Angefangen bei Verletzten oder Geflüchteten, Binnenvertriebenen, all den Problemen, die sie durchmachen. Wir müssen diesen Menschen eine Stimme geben. Und die Ukraine braucht Orte, die für diese Menschen gebaut werden, für ihre Rehabilitation. Es wird viele Menschen geben, die mit Behinderungen leben. Sie müssen sich als vollwertiger Teil der Gesellschaft fühlen können. Das ist wichtig, weil ich merke, dass die Ukraine diese Infrastruktur einfach nicht hat. Eine Person im Rollstuhl kann an viele Orte einfach nicht gelangen.  

ZEIT ONLINE: Sie sind viel mit dem ukrainischen Militär unterwegs. Wie frei können sie arbeiten? 

Pilipej: Es gibt viele Regeln, wenn man mit dem Militär arbeitet. Diese Regeln sind aus dessen Sicht meistens sicherheitsbezogen. Manchmal sind sie wirklich streng, und du kannst nichts daran ändern. Du musst es entweder akzeptieren oder eben gehen. Manchmal darfst du Standorte nicht offensichtlich zeigen. Es gibt Momente, in denen du ein Bild siehst, es vielleicht aufnimmst, aber schon weißt, dass du es erst mal nicht verwenden darfst – vielleicht irgendwann später. Auf russischer Seite gibt es Militärs, die ein Gebäude nur anhand seiner Fassade oder eines Mosaiks an der Wand erkennen können. Also sagen sie mir: „Mach kein Foto, auf dem diese Wand zu sehen ist“, weil Leute den Ort sonst identifizieren könnten – und dann wird dieser Ort vielleicht beschossen. Für mich als Fotograf ist das Wichtigste, dass ich niemanden in Gefahr bringe. Kein Foto ist eine menschliche Verletzung wert. Das ist meine Regel. Denn wir Fotografen – wir kommen, arbeiten und gehen dann. Aber die Menschen bleiben dort.  

ZEIT ONLINE: Manchmal ist es einfacher, zu sagen: „Der Zugang ist aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt.“ Nutzt die Armee das auch als willkommene Gelegenheit, um unbequeme Bilder zu verhindern?  

Pilipej: Meistens sind es nachvollziehbare Gründe. Ich selbst schaue meine Fotos immer zuerst durch und frage mich: Gibt dieses Bild Hinweise auf den Ort? Gegenseitiges Vertrauen ist wichtig. Wenn du etwas über einen sensibleren Ort machst, müssen sie dich kennen. Vielleicht haben sie schon mit dir gearbeitet. Dann wissen sie, dass du vernünftig bist. Man muss sich vorstellen: Diese Menschen begegnen ständig Journalisten – aus dem Ausland, aus der Ukraine, aus Deutschland. Wenn dich jemand versucht zu zensieren, dann musst du natürlich dagegen stehen und sagen: „Das ist keine Sicherheitsmaßnahme, das ist Zensur.“ 

ZEIT ONLINE: Soldaten werden in der Ukraine langsam knapper, die Regierung mobilisiert immer stärker. Wie erleben Sie diese Veränderung über die Jahre?  

Pilipej: Als der Krieg 2022 in vollem Ausmaß begann, meldeten sich unzählige Freiwillige. Die Bereitschaft war überwältigend. Heute sieht das anders aus – nicht unbedingt, weil die Motivation fehlt, sondern weil sich die Umstände verändert haben. 

ZEIT ONLINE: Inwiefern?  

Pilipej: Es ist differenzierter geworden. Viele entscheiden sich gezielt für
bestimmte Positionen oder Spezialisierungen. Es gibt weiterhin Menschen,
die sich melden – nur eben nicht mehr in dieser anfänglichen Welle. Und
das ist auch verständlich, denn viele Menschen sind seitdem gestorben.
Erst gestern habe ich die Beerdigung eines Soldaten dokumentiert – ein
Drohnenoperator, der durch eine russische Drohne getötet wurde. Vor über
zwei Jahren habe ich schon die Beerdigung seines jüngeren Bruders
begleitet – ein bekannter Aktivist in Kyjiw. Als der Krieg begann, zogen
beide Brüder gemeinsam in den Kampf. Jetzt sind sie beide tot. 

ZEIT ONLINE: Es ist immer häufiger von Friedensverhandlungen die Rede. Wie reagieren die Ukrainerinnen und Ukraine darauf?

Pilipej: Wenn hier in der Ukraine über Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen gesprochen wird, denken viele sofort an die Jahre seit 2014 – da gab es zahlreiche Anläufe. Und viele Menschen haben Angst davor, dass der Konflikt einfach nur für eine gewisse Zeit „einfriert“, ohne echte Garantien oder Sicherheit. Was sich die Menschen wünschen, ist die klare Aussicht darauf, ihr Leben endlich wieder in Frieden aufbauen zu können – in dem Wissen, dass keine Raketen mehr über ihnen einschlagen, keine Drohnen mehr fliegen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben all diese Phasen bereits durchlebt. Und dennoch wurden sie am Ende erneut überfallen. Was viele hier am meisten fürchten, ist ein scheinbarer Frieden, der in ein oder zwei Jahren wieder in Gewalt umschlägt. 

ZEIT ONLINE: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit die Perspektive auf den Krieg verändert – gerade als ukrainischer Fotograf? Spüren Sie einen Einfluss? 

Pilipej: Es ist schwer, ein Bild wirklich in den Köpfen der Menschen zu verankern – besonders heutzutage, wo es so viele Bilder gibt. Es ist nicht mehr wie früher, als etwa ein Foto von Nick Út einen Krieg komplett verändern konnte.  

ZEIT ONLINE: Der Fotograf, der im Vietnamkrieg das als „Napalm Girl“ weltbekannt gewordene Bild machte. 

Pilipej: Was wir heute hoffen können, ist vielleicht, dass unsere Arbeit Stück für Stück Einfluss nimmt. Vielleicht verändert sie wenigstens die Meinung einzelner Menschen oder hilft ihnen, besser zu verstehen, was die Ukraine in diesen Jahren durchmacht – und sie sagen: „Okay, das sollte im 21. Jahrhundert nicht passieren.“ Dann hoffe ich, dass es hilft.   

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