Vor einigen Tagen fragte
mich eine Hamburgerin, der ich als putinkritischer Russland-Experte vorgestellt
wurde, wie sehr sie sich vor einem russischen Raketenangriff auf ihre Stadt
fürchten müsse, schließlich sei das ein sehr wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Ich
hielt kurz inne und suchte nach einer ausgewogenen Antwort. Hätte mich so etwas
jemand aus der estnischen Grenzstadt Narwa, aus einem litauischen Dorf nahe dem
russischen Gebiet Kaliningrad, aus dem hohen Norden Finnlands oder von einer der
vorgelagerten schwedischen Ostseeinseln gefragt, hätte ich, ohne zu zögern, geantwortet,
man dürfe keinesfalls die Möglichkeit unterschätzen, dass Moskau dort eine
größere militärische Provokation planen könnte – allein schon mit dem Ziel, die
Verteidigungsfähigkeit und generell die Reaktion der Nato zu testen. Auch
Sabotageakte gegen Unterwasserkabel sind eine ernst zu nehmende Gefahr, schließlich hat es in baltischen
Gewässern bereits mehrere mysteriöse Beschädigungen der Infrastruktur gegeben.
Aber ein direkter Angriff
auf eine deutsche Millionenstadt? Das erscheint nun doch äußerst unwahrscheinlich.
Allerdings hat vor etwas mehr als drei Jahren ebenfalls kaum jemand daran geglaubt,
dass Wladimir Putin wider jegliche Vernunft den Befehl zur Großinvasion in der
Ukraine geben würde. Auch jener junge Mann, der mich kürzlich bei der
Vorstellung meines Buches in Köln ansprach, konnte und wollte sich damals so
etwas nicht vorstellen. Er habe immer großes Interesse und tiefe Sympathie für
Russland empfunden, gepaart mit einem „bestimmten Maß an
Antiamerikanismus“, so, glaube ich, hatte er sich ausgedrückt. Deshalb
fuhr er unbekümmert, auch etwas trotzig, als Tourist nach Kyjiw, während die USA
eindringlich vor bevorstehenden Kriegshandlungen warnten und gerade ihr
Botschaftspersonal abzogen – und erlebte in der ukrainischen Hauptstadt am
frühen Morgen des 24. Februar 2022 genau das, wovor sich meine
Gesprächspartnerin aus Hamburg so augenscheinlich fürchtet: ein russisches
Bombardement.
Meine Antwort auf ihre besorgte
Frage brachte ich auf folgende Formel: „Sie sollten sich jetzt staatsbürgerliche,
aber keine existenziellen Sorgen machen.“ Denn eine unmittelbare Bedrohung
seitens Russlands für Leib und Leben der Menschen in Deutschland sehe ich zum
jetzigen Zeitpunkt nicht, auch wenn im russischen Staatsfernsehen Propagandisten
in Talkshows immer wieder großspurig fordern, Berlin müsse erneut, wie schon vor
80 Jahren, erstürmt werden. Ernsthaft besorgt sollte man in der Bundesrepublik über
etwas anderes sein: über die mangelnde Bereitschaft von Teilen der eigenen Bevölkerung,
der wachsenden geopolitischen Gefahr, die von Russland ausgeht, entschieden entgegenzutreten.
Womit wir auch schon beim neuen deutschen Reizwort „kriegstüchtig“
wären.
Ein deutsches Wahrnehmungsproblem
Eigentlich macht der öffentlich
bekundete Unwille zahlreicher Deutschen zur Aufrüstung all diese Menschen in
meinen Augen nicht gerade unsympathisch, besonders im Kontrast zu dem, was ich
in meiner russischen Heimat erlebe. Dort wird schon seit Längerem, besonders aber
in den letzten drei Jahren, ein regelrechter Kult der Waffengewalt zelebriert, denn
Kriege, so das Narrativ, seien etwas, wo wir Russen immer die Guten sind,
Heldentaten vollbringen und am Ende einen glorreichen Sieg davontragen. Auch
die deutsche Abneigung gegen den militärischen Begriff „Abschreckung“ kann ich
gut nachvollziehen. Die Deutschen wollen angesichts ihrer Geschichte nie
wieder Schrecken verbreiten. Auch hier ticken meine russischen Landsleute
leider anders, denn eine tief sitzende Vorstellung sowohl vom Alltagsleben als
auch von der globalen Politik besagt, die anderen sollten sich vor dir
fürchten, dann werden sie dich auch achten.
Es liegt also
möglicherweise an einem Kommunikationsproblem, dass die angestrebte schnelle Ertüchtigung
der Bundeswehr und anderer europäischer Armeen in der deutschen Gesellschaft teilweise
sehr kritisch gesehen oder sogar komplett abgelehnt wird. Vielleicht würden
Synonyme zu einer größeren Akzeptanz verhelfen. Also nicht „kriegstüchtig“
werden, sondern „wehrhaft“, schließlich ist der Begriff
„wehrhafte Demokratie“ vergleichsweise populär, wird aber lediglich
innenpolitisch interpretiert. Ebenso ließe sich nicht von „Abschreckung“
sprechen, sondern von „Eindämmung“, diesen Begriff gibt es immerhin seit
dem Kalten Krieg.
Doch im Kern geht es hier
nicht allein um ein Kommunikations-, sondern eher um ein Wahrnehmungsproblem. Russland
führt einen brutalen Eroberungskrieg in der Ukraine, hetzt in der staatlichen
Propaganda sowie den mittlerweile fast gleichgeschalteten Medien konkret gegen
Deutschland und seine Politiker, baut in seinen Medien gezielt das
Feindbild Europa auf, erklärt die EU-Staaten neuerdings zu
„Eurofaschisten“, weil sie den Verteidigungskampf des ukrainischen
Volkes unterstützen. Dennoch wollen erstaunlich viele in Deutschland – zum
Glück bei Weitem nicht die Mehrheit, wie Meinungsforscher belegen – dieser
Gefahr partout nichts militärisch Handfestes entgegensetzen. Warum?