Was bliebe im VW-Dorf ohne VW?
Diese Frage stellen sich ALLE im nordhessischen Baunatal. Auf 27 000 Einwohner kommen hier 17 000 VW-Arbeiter. Der ganze Ort hängt an Europas größtem Industrie-Konzern. Überall stehen Käfer-Denkmale, die Hauptstraße ist benannt nach Heinrich Nordhoff, dem legendären VW-Chef der Wirtschaftswunderjahre. Das wichtigste Hotel im Ort heißt Scirocco, benannt nach dem VW-Sportflitzer der 70er-Jahre.
Doch seit einer Woche ist Baunatal in einer Schockstarre: Angst, dass Volkswagen das Werk schließt.
Nordhessen ist strukturschwach, das Armenhaus des Bundeslands. Der wichtigste und größte Arbeitgeber ist Volkswagen. VW hat hier mehr als doppelt so viele Mitarbeiter wie Opel an seinem Stammsitz in Rüsselsheim.
So entstand das künstliche VW-Dorf
1957 baut Volkswagen in Altenbauna sein Werk. 821 Menschen lebten damals im Dorf. VW vereinnahmt immer mehr umliegende Dörfer. Häuser, Wohnblöcke, Schulen, Restaurants, Hotels, Zuliefererbetriebe schießen aus dem Boden. 1964 wird aus den Dörfern Altenbauna, Hertingshausen, Rengershausen und Guntershausen und drei weiteren der Kunst-Ort Baunatal.
In Baunatal ist noch nie ein Auto vom Band gelaufen. Aber ohne die Teile von hier würde in den anderen Werken kein VW gebaut werden können. Und ohne VW ist Baunatal am Ende. Professor Guido Bünstorf (55), Berater der Bundesregierung, warnt vor einer Katastrophe für die Region: „Wenn es zu einer Werksschließung käme, wäre mit einem gewaltigen Schock zu rechnen.“ Junge Leute würden die Region verlassen, der Ort würde schrumpfen.
Ministerpräsident Rhein bringt staatliche Hilfen ins Spiel
Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (53, CDU) bringt bereits staatliche Hilfen für das hessische Werk ins Spiel, sagt zu BILD: „VW ist ein enorm wichtiger Arbeitgeber für Nordhessen. Klar ist: Die hessische Landesregierung lässt die Mitarbeiter in Baunatal nicht allein.“
BILD hat im VW-Dorf mit Betroffenen gesprochen. Marcel Werner (44), Eigentümer des Hotel „Scirocco“: „Ich mache mir große Sorgen um das Hotel und meine 17 Mitarbeiter. Wir alle haben Existenzangst. Wir hatten auch letzte Woche bei uns eine Betriebsversammlung. Für die ganze Region wäre das ein Genickbruch. Wir alle hier hängen an VW.“
„Wenn es kommt, dann muss man die Stadt neu erfinden“
Dirk Wuschko (57), Leiter vom Baunatal-Marketing: „Wir haben kaum Touristen, kein einprägsames Gebäude. Wir haben VW. Unser Maskottchen ist deshalb der Käfer, der steht überall. Ohne VW würde es Baunatal wahrscheinlich nicht geben. In das Komponentenwerk ist so viel investiert worden, dass VW doch nicht die ganzen Investitionen wegwirft? Aber wenn es kommt, dann muss man die Stadt neu erfinden.“
„Wenn Baunatal zu macht, wird Infrastruktur zusammenbrechen“
Heike Quandt (62), Anwohnerin: „Habe mitbekommen, wie die Stadt gewachsen ist, wie die VW-Siedlung gebaut wurde.“ Und jetzt droht dem Ort der Abstieg. Quandt weiter: „Wenn Baunatal zugemacht wird, wird einiges an Infrastruktur zusammenbrechen. Vieles, was jetzt selbstverständlich ist, wie kostenlose Kindergärten, wird nicht aufrechtzuerhalten sein. Viele werden, wenn sie hier keine Arbeit mehr haben oder finden werden, abwandern. Viele werden ihre Häuser nicht mehr bezahlen können.“
„Alles, was mit Volkswagen zu tun hat, wirkt sich unmittelbar auf Baunatal aus“
Henry Richter (54, parteilos), designierter Bürgermeister von Baunatal: „Ich mache mir sehr große Sorgen um die Entwicklungen im VW-Werk. Wenn es zu Kürzungen oder Schließungen kommt, dann hat das gravierende Auswirkungen auf die Region. Alles, was mit Volkswagen zu tun hat, wirkt sich unmittelbar auf Baunatal aus. Ich werde eine Stabsstelle schaffen, die sich vorrangig um die VW-Krise kümmert. Wir sind abhängig von Volkswagen, müssen schauen, wie wir die Abhängigkeit verringern.“