Mein Leben verdanke ich einem Granatsplitter, der Weihnachten 1944 den Oberarm meines Großvaters zerfetzte. „Daheim wäre das Christkind gekommen“, soll sein Kamerad noch zu ihm, dem damals 31 Jahre alten Wehrmachts-Infanteristen, gesagt haben. Dann krachte es.

Schwer verletzt kam Opa von der Ostfront in ein Lazarett nach Wels (Österreich), geriet später in amerikanische Kriegsgefangenschaft. In seiner Akte ist das „Weihnachtsgeschenk“ 1944 dokumentiert mit: „Gr. Spl. re. O. Arm re. Auge“. Ein nüchterner Abkürzungssalat, der vermutlich sein Leben rettete und das meiner Familie ermöglichte. Aus Großvaters letztem Regiment kehrten nur wenige zurück.

Die Geschichte vom Weihnachtswunder 1944 hat mein Vater mir weitererzählt. Opa starb im November 1982, fünf Monate vor meiner Geburt, auf die er sich laut meinem Papa unendlich gefreut hatte. Jetzt kenne ich die Geschehnisse aus erster Hand(schrift). Bei meinen Eltern fand ich einen Umschlag mit seiner Feldpost.

Auf dem verschlissenen, vergilbten Papier lese ich Opas Worte an meine Oma, zart und lieb, aus der brutalen Hölle des Krieges. „Meine liebe gute Wally“ beginnt er all die Jahre seine Zeilen aus Frankreich, Russland oder Ungarn.

Auch wenn ich ihn nie kennenlernen durfte, stockt mein Atem mit seinem, wenn er schreibt, dass sie nahezu eingekesselt seien, „zu 90 Prozent“ mit ihrem Leben abschließen könnten und dass die feindlichen Flieger über ihn geflogen seien („Zum Glück hatten dieselben keine Munition mehr“). Er glaubt: „Man kann nur noch durch eine Verwundung zurückkommen. Du zweifelst nun sehr an einem Wiedersehen. Da könnte die Lage sein, wie sie wollte, die Hoffnung gebe ich noch nicht auf.“

Wenn ich mit dem Finger über seine schnörkelige Schrift fahre und lese, was er aus dem Heimaturlaub 1942 an einen Kameraden schickt, dann lache ich mit ihm: „Waschen brauche ich mich nicht mehr, weil mir W. so viele Bussis gibt. In einigen Tagen mache ich den großen Schritt in die Ehe.“

Und ich fühle seine Sehnsucht, wenn er später notiert: „Früher, kannte ich so ein Heimweh, wie ich es jetzt habe, überhaupt nicht. Je öfter ich bei dir bin, umso schlimmer wird es noch.“

Ich spüre die Verzweiflung über seine Dienstpflicht, wenn er 1944 aus Ungarn schreibt: „Ich wünsche niemandem, dass er Soldat spielen muss.“

Mein Herz schmerzt mit seinem, wenn ich lese, wie verloren er sich an Heiligabend, fern der Heimat und ohne Nachricht von seiner Frau fühlte: „Der größte Schmerz, den mir der Feind in den letzten Tagen zugefügt hat, ist, dass die ganze Weihnachtspost in seine Hände fiel. Wenn man von daheim auch keine Verbindung mehr hat, wird man erst recht mutlos. Hoffentlich hattest du nicht allzu viele Pakete für Weihnachten geschickt. Sei recht vielmals gegrüßt und viele Bussis. Bitte schreibe bald, oft und viel!“

Seine Briefe enden meist mit einem „Auf Wiedersehen – aber wann???“ Für mich und viele andere ist das heute eine banale Floskel, damals war es ein gewaltiger Wunsch: Sich nur noch einmal in den Arm nehmen zu können.

Es sind Briefe, Worte, Wünsche, wie sie auch in diesen Weihnachtstagen von Fronten nach Hause geschickt werden. Gar nicht weit weg von da, wo er einst mit halb erfrorenen Fingern zu Papier brachte: „Mir schwinden die Kräfte allmählich. Ständig im Freien bei diesem tiefen Schnee. Wenn nur der Winter schon vorbei wäre.“

Meine Oma blieb nach Opas Tod 39 Jahre allein, bis sie mit 101 starb. Meine Tochter habe ich nach ihr benannt. Bis zuletzt sprach meine Großmutter voller Liebe von ihrem „Loisl“, sein Foto hing in ihrem Schlafzimmer. Ich hoffe, sie haben sich wiedergesehen, da, wo sie jetzt sind.